FLEISCH. Erzählung. Band VI.

E-VERLAG. BERLIN seit 1998. Verlagsnummer: 06P/14-07-98 (seit etwa 1991)
Erzählung: <Paul>. Band VI.
MobilVerlag (¿.) Berlin 2008. 01Sep2009. ©Harald Settele 

Vorwort

Paschke hatte sich lange vorgestellt, wie sich die Leiber aufeinander, aneinander geschoben hatten. Wie die Lippen sich gefunden. Die Haare ineinander verkrallt. Die Schamhaare. Die Säfte sich vermengt. Das Gekeuche. Der Schweiß unter den Achseln. Das Bettlaken mit ihrem Geruch getränkt. Er hatte dieses Bett betrachtet. Mit Interesse und Abscheu. In dem die Frau an die er sein Herz gegeben sich einem anderen geöffnet hatte. Endlich. Denn dieser Betrug war vorbereitet gewesen. Keine Sache, die plötzlich über zwei Menschen kommt. Eine Absprache war getroffen worden. Nur Paschke hatte von dem stummen Einverständnis der beiden Körper nichts gewusst. Das lange vor dem Vollzug Wort geworden war. Er war zwischen zwei wissend Verschwiegenen ahnungslos gewesen. Es war ihm die Möglichkeit verwehrt, den Vorgang zu verachten, denn er wusste: es geschieht dem Menschen, dass er von einem Begehren angefasst wird, das ihn kopflos macht. Das ihn vergessen lässt, dass er nicht frei unter anderen lebt, ohne Verantwortung für die Verletzungen, die sein Tun hervorruft. Paschke wusste, er hätte es selbst so getan. Er hatte sich nur elend gefühlt, nachdem er von dem Betrug erfahren hatte. Seine innersten Gefühle waren in Unordnung geraten. Georg Paschke war sonst nicht allzu leicht aus seinem inneren Gleichgewicht zu bringen. Demzufolge war es nicht seine Sache dem Betrug gleich mit unüberlegter Hast zu begegnen. Und doch war er durch den Betrug erniedrigt worden. Er hatte still zugehört, wie ihm die Umstände des Ereignisses berichtet worden waren. Er war durch die Straßen gegangen. Allein. Ein Ekel hatte in seinem Hals gesessen, eine Wut in seinen Händen. Und sein Magen hatte nervös Luft zu seinem Mund gepresst. Saure, übelschmeckende Luft. Er ahnte, dass es zuletzt ein Ekel vor sich selbst war, den er da fühlte und wusste ungenau, dass es sich hierbei um eine andere Niederlage handelte, als die Niederlagen, die ihm wohlvertraut waren. Er wusste um die Arglosigkeit der beiden anderen. Ihr Herz war berührt worden und sie hatten nicht widerstehen wollen.
Paschke hatte begriffen, dass kein Mensch zu einem anderen gehört. Und er wusste, dass die Einsamkeit des Menschen ihn zwingt, Zugehörigkeiten zu erfinden, die zuletzt wertlose, windige Schemen bleiben. Also schloss er, dass eine Übereinkunft getroffen werden müsste. Ein Schwur. Paschke hatte diesen Schwur getan. Still, in sich. Doch dann war ein Herz von einem anderen gerührt worden. Hatte Fleisch Fleisch kosten wollen, seine Herz Dame an fremden Hodensack gegriffen. Es war nichts, als eine Episode, die die Welt hunderttausendmal erzählt an einem Tag. So wie er selbst nur eine Episode war. Wie alle Schwüre. Alle Sehnsüchte. Er begriff bang, dass nur das nackte Fleisch übrig blieb. Es war unmöglich, der Einsamkeit ein Schnippchen zu schlagen, dem Totenschädelgrinsen der Wahrheit, dass wir Menschen sinnlos geboren wurden um allein zu sterben. Dass wir Umhergetriebene sind ohne einen Platz, an dem wir Ruhe finden könnten. Dass alle unsere Gedanken und schönen Vorstellungen uns nicht helfen können. Dass es uns nicht gelingt, mittels Verträgen oder freier Absprachen unserer Verlorenheit zu entgehen. Paschke, ein erniedrigter, vorgeführter Mensch, musste dieser Einsicht Konsequenzen folgen lassen. Er war nicht der Typ, der einfach ausbricht, er machte sich Gedanken. Er rechnete seine Irrtümer und deren Folgen still auf und versuchte, noch als Geschlagener seine Schlüsse zu ziehen. Auch sein Verlorengehen sollte noch wohlgeordnet sein.


Ich trat hinaus auf die Straße, 
diesen ausgelatschten Trampelpfad der 
Stadt. 

Dass unser Fleisch niemandem gehört! 


I. Kapitel

Georg Paschkes Abreise war schnell vorbereitet. Er hing nicht an den Dingen des persönlichen Besitzes. Diese ließ er einfach zurück. Er packte nur einen kleinen Koffer voll Kleidung, nahm seine persönlichen Dokumente mit sich. Die Taxe ließ er kurz vor seiner Bank halten, um das Konto zu leeren. Sein Vermieter und sein Arbeitgeber würden ohne ihn auskommen. Er erwarb eine Busfahrkarte aufs Land und fuhr ohne sich viele Gedanken zu machen.
In einer kleinen Ortschaft an einem See stieg er aus dem Bahnbus und marschierte die Dorfstraße hinunter. An einem Haus mit einem entsprechenden Hinweisschild nahm er ein billiges Zimmer mit Frühstück. Die Wirtin, eine offensichtlich allein stehende, gerade noch junge Frau, wies ihm ohne viel Worte eine Tür im ersten Stock an. Er schloss auf und sah, dass das Zimmer Fenster nach zwei Richtungen hin hatte. Ein Eckzimmer. Es gefiel ihm sofort. Er warf sein Köfferchen aufs Bett, wusch sich Hände und Gesicht und ging wieder ins Parterre. Die Vermieterin gab sich erleichtert, dass ihm das Quartier gefiel. Er sagte, er wolle ein wenig spazieren gehen bevor es dunkel würde und war zur Tür hinaus, ehe die Frau etwas antworten konnte.
Als er später zurückkehrte, hatte die Frau ein Abendbrot für ihn zurechtgemacht. "Das heißt, natürlich nur, wenn Sie wollen. Es gibt im Dorf den Gasthof Adler. Dort können Sie natürlich auch zu Abend essen", sagte sie und errötete ein wenig. Doch Georg Paschke nahm das Angebot gerne an. "Ich habe das Abendbrot in der Stube zurechtgemacht, ist das recht, oder wollen Sie lieber in ihrem Zimmer speisen?" Paschke setzte sich zu der Frau in die Stube. Während er aß beschäftigte sie sich mit einer Handarbeit. Pascke fand, dass er in Zukunft lieber in seinem Zimmer essen sollte, denn er mochte seine aufdringliche Anwesenheit in der Stube einer fremden Person nicht. Doch Elli Gutbrandt, so hieß seine Gastgeberin, servierte von jetzt an Frühstück und Abendessen immer in ihrer Stube und tat dies mit einer Selbstverständlichkeit, gegen die Pasche sich nicht zu wehren wusste. Er gewöhnte sich an die Mahlzeiten an der Seite Elli Gutbrandts, die gottlob nicht sehr gesprächig war und auch von ihm keine Unterhaltung erwartete.


II. Kapitel

Nach einigen Tagen bat er um einen billigeren Zimmerpreis, den er wöchentlich entrichten wollte. Frau Elli Gutbrandt begriff daran gleich, dass dieser Gast nicht nur für einige Tage oder wenige Wochen im Dorf zu bleiben gedachte, wie sonst die erholungssuchenden Besucher. Paschke gab sich frei und ungebunden, und seine Sorglosigkeit beeindruckte Elli Gutbrandt tief. Es war ihr nicht ganz geheuer, dass ihr Gast jenseits der üblichen Ansichten von Arbeitsleben oder Eingebundenheiten war. Das sorglose, freundliche Auftreten Georg Paschkes beruhigte sie jedoch. Sie unterließ es, ihn nach den Beweggründen für seinen Aufenthalt zu befragen. Schon wenige Tage später nahm sie Paschkes Anwesenheit als interessante Abwechslung in ihrem stillen Leben hin und machte sich keine weiteren Gedanken. Sie sah ihren Gast ja auch nur beim Frühstück und während des Abendbrots. Ansonsten war Paschke entweder außer Haus, oder er saß in seinem Zimmer.

Nach den Abendmahlzeiten begab sich Paschke in den Gasthof Adler, um ein paar Bier zu trinken. Anrede hielt er kurz, und so wusste niemand dort allzu viel über ihn. Anfragen nach Elli Gutbrandt behandelte Paschke so, dass allmählich alle sensationslüsternen Gerüchte im Adler um den Gast der allein stehenden Frau verebbten. Man dichtete den beiden natürlich allerhand an, doch die ohnehin mangelhafte Fantasie in den Verdächtigungen der Dörfler machten ihnen die Sache allmählich langweilig und Georg Paschkes offenherzige Auskünfte ließen ihnen keinen Raum für allzudreiste Vermutungen.
Auf die Frage, was er beruflich treibe hatte er nur geantwortet: "Nichts, ich bin ja hier, um mich von der Arbeit zu erholen." Auf dem Lande gibt es genügend Arbeitslosigkeit, so dass die Leute im Adler sich ihren eigenen Reim auf diese Auskunft machen konnten. Paschke war bald als stiller, etwas langweiliger Gast geduldet, der den gewohnten Gang der Dinge im Dorf nicht störte.

Auf seinen langen Spaziergängen durch die Landschaft dachte Paschke wenig an die Situation, aus der er gekommen war. Die Kornfelder, der Raps, der Mais erinnerten ihn vielmehr an eine viel weiter zurückliegende Zeit, seine Kinderzeit, die er teilweise auf dem Lande verbracht hatte. Minutenlang lauschte er nur dem Wind in den Pappeln, die die Straßen an den Dorfausgängen säumten, versank in Betrachtung der Wolkenhaufen und Lichteffekte am weiten Landhimmel. Er machte unausgereifte Pläne wie ein Jugendlicher, wollte zeichnen lernen, Gedichte schreiben und den Versuch machen, seine Wahrnehmungen der Landschaft in Aphorismen zu beschreiben. Tatsächlich erstand er im Dorfladen einen Zeichenblock und Stifte und setzte sich mitunter in die Landschaft, um zu zeichnen. Elli Gutbrandt hatte er um ein Buch mit Landschaftszeichnungen eines vergessenen Künstlers aus der Gegend gebeten das er bei ihr entdeckt hatte und erwarb sich durch Nachahmung daraus einige Fertigkeiten.
Vor dem Abendbrot mit Elli Gutbrandt legte er sich meist noch auf eine Stunde in sein Zimmer und ging nach dem Essen in den Adler. Dort erst dachte er dann meist an Anna, an ihr Gesicht, ihren Körper, ihre Stimme. An glückliche Stunden und die Unruhe die ihn nach ihrem Betrug erfasst hatte. Er dachte an die Stadt aus der er gekommen war, an sein Leben dort mit Anna und an die Zeit vor Anna, die seiner gegenwärtigen Situation zu ähneln schien. Einsam war er gewesen, voller Sehnsucht nach einem Menschen, den er lieben könnte. Dorthin war er wieder gestoßen worden durch Annas Betrug.
Nach den ersten Gläsern Bier steigerte sich seine Traurigkeit und seine hilflose Wut, und manchmal stand er kurz davor, sich zu den Bauern zu setzen und sich an deren simplen Gesprächen über die Frauen zu beteiligen. Doch es gelang ihm noch jedes Mal, sich zu fassen. Er bezahlte dann schnell und ging etwas entsetzt nach Hause zurück, wo Elli Gutbrandt, die morgens sehr früh aufstand, immer schon schlief.


III. Kapitel

Eines Abends ging Paschke nach dem Abendbrot nicht in den Gasthof Adler. Er lehnte sich mit vollem Magen zurück, kaute auf einem Stück Speck herum und betrachtete seine Wirtin. Elli Gutbrandt saß auf dem Sofa und lauschte einem Showmaster im Fernsehen, wobei sie strickte. Nach einer Weile bemerkte sie, dass sie von Paschke länger als sonst angesehen wurde. Ihre Augen wurden unruhig, doch sie wollte es sich nicht anmerken lassen, dass sie Paschkes Blick spürte. Paschke dehnte das Spiel bis zur Grenze der Erträglichkeit aus, reckte sogar den Kopf etwas nach unten, als wolle er Elli Gutbrand, die einen Rock trug und die Beine aufs Sofa gezogen hatte, unter den Rock schielen. Elli Gutbrandt errötete, doch sie wandte sich ihm nicht zu. Schließlich sagte er laut: "was stricken Sie denn da?"
Elli Gutbrandt tat wie aus großer Aufmerksamkeit gerissen. Man sprach über Strickjacken und Wollsocken. Der Fernseher blubberte sinnlos über das Gespräch hin und zuletzt stand Paschke auf und schaltete ihn ab. Er sagte munter: "ich werde Ihnen mal einen schönen Pullover zeigen. Meine Mutter hat ihn für mich gestrickt." Er ging auf sein Zimmer und begann, als suche er im Schrank und im Buffet. Elli kam schließlich die Treppe herauf und lachte ihm ins Gesicht. "Da sind sie mit nur einem winzigen Köfferchen hier angekommen und finden den Pullover nicht?" Georg Paschke richtete sich auf und zuckte lächelnd mit den Schultern. "Tut mir leid, vielleicht hab ich ihn gar nicht dabei." Elli Gutbrandt stand im Zimmer und schaute sich um. Paschke hatte ein paar seiner Zeichnungen aufgehängt. Sie betrachtete sie und sagte: "Sie zeichnen gut." Sie erkannte einige der Stellen, die Paschke gezeichnet hatte. Sie schien gerührt, dass ihr Gast sich so eingehend mit ihrer Landschaft beschäftige. Sie gingen wieder in die Stube. Paschke fragte, ob sie einen Spaziergang zum Teich mit ihm machen wolle. Doch Elli wehrte ab. 
Paschke bestand nicht auf seinen Vorschlag und so verließ er das Haus auch an diesem Abend allein. Doch er ging nicht in den Adler, sondern machte tatsächlich einen Spaziergang zum Teich. Dieser Teich lag einige hundert Meter außerhalb des Dorfes in einem Wäldchen. Als Paschke sich dem Teich näherte hörte er von weit Kichern im Gebüsch, das um den Teich wucherte. Er näherte sich dem Geräusch vorsichtig und verbarg sich selbst im Unterholz, als er sich der Stelle nahe glaubte, von der das Kichern gekommen war und wartete. Wieder hörte er das Kichern und eine Männerstimme. Eine Ahnung ließ sein Herz schlagen. Vorsichtig arbeitete er sich auf die Stelle zu. Er sah im Halbdunkel des Abends die Beine eines Mannes und einer Frau, ineinander verschlungen, hinter einem Busch hervorragen. Die Hosen des Mannes waren heruntergelassen und die Beine der Frau nackt.
Paschke schloss vor freudiger Überraschung für Momente die Augen. Die Stimmen schwiegen jetzt und es kam Bewegung in die Beine der beiden. Paschke kam nun näher heran, ohne befürchten zu müssen, dass sie ihn hörten. Er erkannte Anneliese, die Tochter des Adlerwirten, die im Gasthof an den Wochenenden aushalf und einen Bauern aus dem Dorf. Paschke sah die derben Hände des Bauern auf den weißen Brüsten des Mädchens. Er sah die groteske Bewegung einer Begattung. Die unbequeme Stellung der beiden, ihre nur teilweise, von den hastig weggezerrten Kleidungsstücken behinderte Nacktheit unterstützte den Eindruck des Grotesken in ihren Bewegungen. Paschke fand, er sei Zeuge eines im Grunde hässlichen Vorganges. Die Heftigkeit der geilen Stöße übertrug sich auf ihn, obwohl es ihm zuwider war. Eine Lust kam ihm, ein triebhafter Wunsch nach Gewalt. Den Bauern in den Teich zu werfen und sich dann selbst über das Mädchen herzumachen. Doch er lachte nur bitter in sich hinein, unterdrückte seine eigene Geilheit. Er wandte sich ab und ging zurück. Ein Einfall ließ ihn auflachen.
Der Bauer war verheiratet. Paschke hatte ihn schon oft in Begleitung seiner Frau im Adler gesehen. Sein Kopf legte sich einige Gedanken zurecht, und er lächelte still vor sich hin. Auf dem Weg zum Haus von Elli Gutbrandt war er fröhlich und pfiff.

Als er das Haus betrat, früher als wenn er sonst aus dem Adler zurückkam, hörte er, dass Elli wohl im Badezimmer sein musste. Er saß im dunklen Flur und wartete. Als die Tür des Badezimmers ging tat er so, als sei er eben erst zur Tür hereingekommen und stieß beinahe mit Elli zusammen, die in Unterhemd und Höschen war. Elli Gutbrandt schrie auf. Paschke wich wie höflich zurück und schaute zu Boden. Er stammelte eine Entschuldigung, doch er machte den Weg nicht frei. Elli sagte: "macht nichts, Herr Paschke." Er schaute zögernd auf. "Ich wollte gerade zu Bett gehen" sagte Elli und ging dicht an ihm vorbei. Er war ganz gerührt von Ellis Mut und sah ihren festen, runden Hintern, ihre Waden, ihre Kniekehlen. "Gute Nacht" sagte er hinter ihr drein.


IV. Kapitel

In der Nacht fand er keinen Schlaf, setzte sich in den Rahmen eines seiner geöffneten Fenster und rauchte. Er machte kein Licht und nur die Viertelscheibe des Mondes erleuchtete die Landschaft und sein Gesicht. Ein Wind wehte. Georg Paschke horchte still in die Geräusche der Windnacht. Wie ein Raubtier schlug der Wind in die Felder und die Bäume. Paschke zog die Schultern zusammen und atmete flach, damit ihn dieses Raubtier nicht bemerke. Er belauerte es. Selbst Räuber. Ein Gefühl sagte ihm, er sei wie zum Sprung geduckt. Paschke betrachtete seine Unterarme und Hände. Ließ die Muskeln spielen. Genoss das Gefühl, hier in einer dunklen Windnacht zu sitzen, weit fort von seinem Vorleben, ohne Vorhaben und Lebensperspektive. Er würde wie neu beginnen müssen. Das Ereignis am Teich hatte ihn aufgewühlt. Er dachte an Ellis Hintern und Beine. Hübsche Beine. Elli Gutbrandt war nicht unattraktiv. Paschke hatte begonnen, ihren Körper für durchaus anziehend zu halten. Wenn sie lächelte, konnte sie sogar begehrenswert wirken, befand er.
Er begann seine Chancen abzuwägen. Für das Abendbrot hatte Elli Gutbrandt keinen Aufpreis verlangt. Anscheinend lag ihr an Paschkes abendlicher Gesellschaft für diese eine Stunde. Paschke kam der Gedanke, sich Elli Gutbrandt zu Nutze zu machen. Alleinstehende Frau, die ihm unaufgefordert ein Abendbrot machte, jeden Abend und ohne Geld dafür zu verlangen. Doch sofort kamen ihm Skrupel. Er mochte diese Person ganz gerne leiden. Elli Gutbrandt bezog wohl etwas Sozialrente und machte nebenbei unangemeldete Heimarbeit. Sie schlug sich alleine durch. Paschke ahnte, was das in einem kleinen Dorf für eine Frau bedeutete. Sicherlich war sie einsam und sehnte sich nach Zuneigung. Er durfte jetzt keinen Fehler machen. Vielleicht würde sie sich an seine Anwesenheit gewöhnen, so dass sie es vorzog, ihn im Hause zu haben auch wenn er ihr etwas weniger Geld für sein Zimmer gäbe.
Beim Frühstück am nächsten Morgen sprach Paschke von seiner durchwachten Nacht am Fenster. Er ließ es traurig klingen und machte verlorene Augen. Er sprach weich, wie ein Knabe. Elli Gutbrandt saß ihm gegenüber und hörte zu. Sie goss ihm Kaffee nach. Als er einmal kurz in ihre Augen blickte sah er, dass es gut um ihn stand. In Ellis Augen stand Anteilnahme. Dadurch ermuntert sprach er noch von der Einsamkeit, die hier draußen in der Natur ja noch viel stärker zu empfinden sei, dass er dieses Gefühl jedoch liebe, da es nur ehrlich sei, man sei eben allein, und mit Bangen denke er daran, wieder ins hektische Leben der Großstadt zurückzukehren, wo man solche Wahrheiten verdrängen müsse und nie zu sich finden könne. Er wolle es lieber noch einmal überdenken, ob er überhaupt zurückkehren solle, sagte er, vielleicht fände sich ja eine Möglichkeit, etwas Geld zu verdienen und sich irgendwo ein billiges Zimmer zu nehmen.
Elli Gutbrandt machte ihm sofort das Angebot, er solle von nun an doch auf der Basis eines gewöhnlichen Mietsverhältnisses eine angemessene Monatsmiete für sein Zimmerchen entrichten, über deren Höhe man sich sicher verständigen könne. Sie habe sowieso so selten Gäste gehabt, dass sie nicht wesentlich schlechter wirtschaften würde, wenn er ihr etwa 2oo Mark im Monat dafür bezahlen könnte, dass ihr das Zimmer nicht mehr für Gäste zur Verfügung stünde. Paschke bedankte sich still bei ihr und der Handel war abgemacht. Sie hatte nach dem Ereignis des Vorabends, als er sie nahezu nackt im Hausgang überrascht hatte, keine Bedenken mehr, mit diesem Mann allein in ihrem Haus zu leben. Sie fand, er habe sich höflich und zurückhaltend verhalten. Man kennt ja sonst die Männer, dachte sie still bei sich und glaubte, mit Georg Paschke das Glück zu haben, an einen der wenigen anständigen Männer geraten zu sein. Sie dachte sich, dass es wohl dem großstädtischen Umgangston entspräche, wie Paschke sich verhalten hatte, und dieser Gedanke beruhigte sie.
Alles Männliche war Elli Gutbrandt im Grunde ihres Wesens völlig fremd. Ihr Vater war gestorben, als sie drei Jahre alt gewesen war und Brüder hatte sie keine gehabt. Die Spiele der Jungen waren ihr zuwider gewesen und die derben Werbungen der Jungen auf dem Lande hatten sie abgestoßen. Schließlich hatten einige Jungs aus ihrem Dorf ihr eines abends aufgelauert und sie in einem Waldstück überfallen. Sie war entkleidet und ausgelacht worden. Der Vorfall hatte sie gelehrt, dass sie einen Makel haben müsse, der sie von anderen Mädchen unterscheide und sie sehr zurückhaltend gemacht, wenn sie einmal ein leichtes Gefühl der Zuneigung zu einem Burschen erfasst hatte.
So war sie alleine geblieben. Die Männer ihrer Umgebung, die sie wegen ihres Rufes, eine unnahbare Jungfer zu sein, öffentlich mieden, ihr aber, wenn sie ihr allein begegneten, eindeutige Angebote machten, ließen sie zu dem Eindruck gelangen, dass Männer im Grunde unangenehme, aufdringliche Zeitgenossen seien, wie der streunende Hund, der eines Tages in ihrem Garten gewesen war. Sie hatte eine Weile lang nicht vermocht, diesen Hund zu verjagen. Er war wiederholt an ihr hochgesprungen und hatte sein Geschlecht an ihrem Rock gerieben. Sie war zuerst nur verärgert gewesen, doch zuletzt hatte sie Todesängste ausgestanden, als sie dann begriffen hatte, was der Hund da mit ihr anstellte.


V. Kapitel

Auf seinen täglichen Spaziergängen war Georg Pasche von nun an nicht mehr ziellos. Zuerst lenkte er seine Schritte zu dem Haus des Bauern, den er mit Anneliese am Teich beobachtet hatte. So ergab es sich, dass er an manchen Tagen die Bäuerin vor dem Haus antraf, wenn sie Wäsche aufhing, die Hühner fütterte, oder dergleichen Tätigkeiten nachging. Georg Paschke grüßte sie jedes Mal höflich. Allmählich wurde er der Frau in deren engen, einförmigen Tagesablauf vertraut. Der Herr, der bei Elli Gutbrandt wohnte kam da eben oft auf seinem Morgenspaziergang vorbei. Es gab Tage, da blieb Georg Paschke am Zaun vor dem Haus auf eine kleine Plauderei stehn. Das Wetter, die Kinder, das Vieh. 
Man erarbeitete sich über die Wochen ein sozusagen gut nachbarschaftliches Verhältnis, obwohl das Haus des Lehnerbauern alles andere als in der Nachbarschaft Elli Gutbrandts lag. Die Lehnerbäuerin erzählte nun sogar manchmal abends dem Lehnerbauern, wenn der von der Feldarbeit kam, davon, was der Herr Paschke heut erzählt habe. Der Lehnerbauer kannte Paschke aus dem Adler und nahm es hin, wie man es in einem ruhigen Dorf hinnimmt, was die Weiber einem erzählen. 
Nach seinem Besuch beim Haus der Lehnerbäuerin lenkte Paschke auf seinen Morgenspaziergängen seine Schritte hinaus auf die Felder des Lehnerbauern. Erblickte er ihn dort irgendwo an der Arbeit, so blieb er stehn und rauchte eine Zigarette und verdeutlichte sich noch einmal, was er am Teich gesehen hatte. Manchmal zog er seinen Zeichenblock hervor und zeichnete die Felder und den Lehnerbauern als kleines Männchen darin. Traf er aber den Lehnerbauern nicht auf dessen Feldern an, so ging er zum Haus zurück und erkundigte sich bei der Lehnerbäuerin wie von ungefähr nach ihrem Mann. Kam dann die Antwort, der sei auf den Feldern, war für Paschke ein ganz besonderer Tag.
Als dieser ganz besondere Tag sich das fünfte Mal einstellte, hatte Paschke Glück: er war wie gewöhnlich, wenn sich der Lehnerbauer entgegen der Auskünfte seiner Frau nicht auf seinen Feldern aufhielt, zunächst zum Adler gegangen, um an den Fenstern des Hauses vorbeizugehen, hinter denen die Wirtsfamilie wohnte. In den Fenstern hatte er nichts Besonderes entdecken können, doch wie er hinter dem Haus vorbeiging bemerkte er die Tür des kleinen Geräteschuppens, die sonst immer verschlossen gewesen war. An diesem fünften Tage stand sie einen Spalt weit offen.
Georg Paschke näherte sich vorsichtig einem Spalt in der Rückwand des Geräteschuppens, den eine fehlende Latte ließ. Nachdem sich seine Augen an die Dunkelheit im Inneren gewöhnt hatten, sah er Anneliese. Ihre Bluse war offen und ihre großen Brüste hingen heraus. Sie lehnte vorwärts gebeugt auf einem Gerät zum Heuwenden und hatte ihre Arme darauf gestützt. Der Lehnerbauer stand hinter ihr, mit heruntergelassenen Hosen, seine Hände hielten an der Hüfte des Mädchens ihren Rock hoch. Den Lehnerbauern konnte Paschke nur im Umriss erkennen, da ein heller Schacht Sonnenlicht auf die Brüste des Mädchens fiel und alles andere in dem Geräteschuppen im Kontrast zu dieser Lichtschneise in unklarem Dunkel lag. Annelieses Brüste zuckten wabbernd und stoßweise im staubdurchflirrten Licht. Erschreckt von der Szene zuckte Paschke zuerst zurück in der Angst, Anneliese könne ihn sehen. Doch als er wieder spähte sah er, dass sie die Augen geschlossen hielt. Schweiß rann ihr übers Gesicht und ihre Haut glänzte ölig. Ihr Mund stand offen und war nur heißer Atem. Paschke zog sich nach einigen Momenten zurück, lehnte sich an die Wand des Schuppens und steckte sich eine Zigarette an. Er hörte das Stöhnen des Bauern und einen unterdrückten Schrei des Mädchens. Paschke schaute vorsichtig wieder durch den Spalt. Er sah den Bauern, der die Hosen wieder hochgezogen hatte an Annelieses Brüsten hantieren. Sie kicherte und nestelte ihren Rock zurecht. Sie zog ihn noch einmal hinauf, um ihren engen Schlüpfer zurechtzurücken. Paschke sah ihre fett aufgequollenen Schenkel, ihren Hintern, in dessen Falte sich der viel zu knappe Schlüpfer zog. Das Licht fiel auf sie und Paschke erkannte deutlich Schamhaare, die unter dem Hintern zwischen den fetten Schenkeln aus dem Schlüpfer ragten. Er bemerkte plötzlich die Mücken, die im Inneren des Schuppens schwirrten. Angewidert ging er weg.

Er fand Elli Gutbrandt vor dem Haus im Garten sitzend, wo sie ihrer Heimarbeit nachging. Sie wunderte sich, Paschke so früh schon von seinem Morgenspaziergang zurückkehren zu sehen und bot ihm an, Tee zu kochen und etwas mit ihr vor dem Haus zu sitzen. Paschke sagte, er wolle sich aber zuerst noch um seine Zeichnungen kümmern. "Das können sie doch auch hier im Garten tun" sagte Elli. Doch Paschke wehrte ab und schlug vor, in etwa anderthalb Stunden zum Tee in den Garten zu kommen.
Er ging auf sein Zimmer und verschloss die Tür. Dann nahm er seinen Zeichenblock hervor und begann konzentriert und still zu zeichnen. Annelieses Brüste, ihre Beine, dazu die behaarten, knöchernen Beine des Bauern in der heruntergelassenen Hose. Auf einem zweiten Blatt erschienen die derben Hände des Bauern, wie sie in Annelieses Hüften verkrallt waren und dabei den Rock zusammengerafft hielten.
Georg Paschkes Gesicht war ganz still beim Zeichnen. Er arbeitete mit größter Sorgfalt und war am Ende zufrieden mit dem Ergebnis. Er fand, dass ihm noch keine Zeichnung so gut gelungen sei, wie diese beiden Blätter. Er nahm ein drittes Blatt, um Annelieses Gesicht mit den geschlossenen Augen und dem geöffneten Mund zu zeichnen, doch bemerkte schnell, dass er an dieser Aufgabe scheitern würde. Er packte die Blätter weg und begab sich zu Elli in den Garten, um Tee zu trinken und ein wenig mit ihr zu plaudern. Er fühlte sich leicht und war guter Stimmung, seit er die beiden Zeichnungen angefertigt hatte. Sie schienen ihm wie erste Antworten auf die Frage nach dem Sinn seines Aufenthalts auf dem Lande.


VI. Kapitel

Das Wochenende kam heran und Georg Paschke hatte es mit Ungeduld erwartet. Entgegen seiner Gewohnheit begab er sich am Samstag bereits früh am Nachmittag in den Adler und nahm seine Zeichensachen mit. Er nahm gegenüber der Theke Platz. Zu seiner großen Enttäuschung sah er hinter dem Tresen nur die dicke Adlerwirtin hantieren. Er bestellte ein Bier und sah zum Fenster hinaus. Da hörte er von der Küche her Annelieses Stimme, die sich der Gaststube näherte. Anneliese kam mit einem Teller Wurstbrote herein und servierte sie einem Gast. Georg Paschke holte erleichtert seinen Zeichenblock hervor.
Anneliese machte sich jetzt bei ihrer Mutter hinter der Theke zu schaffen. Wie jedes Wochenende wusch sie Gläser aus und zapfte Bier. Paschke sah unauffällig immer wieder zu ihr hin und hielt den Zeichenblock so, dass er nur etwas über die Tischkante ragte. Rasch fertigte er einige Studien über Annelieses Gesicht an. Eine schwierige Arbeit. Er benötigte viele Blätter, bis es ihm schließlich gelang, einen zutreffenden Eindruck ihres Gesichts anzufertigen. Er war bereits beim dritten Bier, als er sich an den Versuch machte, diesem Gesicht verschiedene Ausdrücke zu verleihen. Anneliese mit hochgezogenen Augenbrauen, mit aufeinandergepreßten Lippen. Anneliese lächelnd und ernst. Anneliese mit geschlossenen Augen und geöffnetem Mund. Das Bier machte ihn mutiger und er fand, er mache Fortschritte. Er gönnte sich eine Pause. Er bemerkte, dass es Zeit für das Abendbrot war, bezahlte und ging. Nach dem Abendbrot, bei dem ihm Elli Gutbrandts Blick bedeutet 
hatte, dass sie seinen Bierkonsum bemerkt hatte, begab er sich abermals in den Adler. Die Gaststube war jetzt voll von Leuten aus dem Dorf. Paschke war gezwungen, einen unvorteilhaften Platz ohne Sicht zur Theke einzunehmen, wollte er nicht riskieren, dass ihm jemand beim Zeichnen zusah. Ernüchtert von dieser unerwarteten Schwierigkeit unterzog er seine Ergebnisse vom Nachmittag noch einmal einem prüfenden Blick. Sofort fiel ihm auf, dass er Annelieses Gesicht immer nur von vorn gezeichnet hatte. Er machte einige Versuche, sie perspektivisch aus verschiedenen Blickrichtungen zu zeichnen, doch er scheiterte kläglich. Mutlos packte er die Zeichensachen weg und gab sich völlig dem Trinken hin, mit der Entschuldigung, dass er so wenigstens öfter Gelegenheit bekäme, Annelieses Gesicht zu sehen, obwohl das Mädchen sich sowieso unentwegt durch den Raum bewegte bei so vielen Gästen.
Mit der Zeit verfiel Paschke in einen Vollrausch. Er hockte zusammengesunken auf seinem Platz und schaute nicht mehr zu Anneliese hin, wenn sie durch den Raum ging. Er hatte sein Vorhaben, ihr Gesicht zeichnen zu lernen, vergessenen. Er dachte an Anna. Im Geiste zeichnete er ihr Gesicht. Er entwarf es wie mit dem Bleistift. Wie es lachte, wie es ernst blickte. Anna, wenn sie erzählte. Die Fältchen um ihre Mundwinkel, wenn sie lächelte. Er bildete sich ein, ihr Gesicht aus der Erinnerung sofort mit sämtlichen Ausdrücken zeichnen zu können. Doch als er sich tatsächlich an den Versuch machte, zeigte sein Vollrausch Wirkung. Er konnte noch nicht einmal Anna in den Strichen auf dem Blatt erkennen. Enttäuscht räumte er seine Sachen zusammen und ging nach Hause.

Doch schon am Sonntag saß er wieder im Adler und übte sich in der perspektivischen Zeichnung an Annelieses Gesicht. Er trank kein Bier und arbeitete langsam und sorgfältig. Er schaute Anneliese so oft und konzentriert an, dass sie es schließlich bemerkte. Sie gab sich belustigt, nachdem sie seinem Tun auf den Grund gegangen war. Sie schüttelte hinter der Theke über ihn den Kopf. Paschke bedeutete ihr, dass er sofort aufhören werde, falls er sie bei der Arbeit störe. Er kam noch zu zwei weiteren Schrägansichten ihres Gesichts, bevor Anneliese ihm sagte, er solle sich doch bitte jemanden anderen für seine Versuche heraussuchen. Darauf ging Paschke nach Hause. Er ärgerte sich über Annelieses Abfuhr. Er glaubte, ein gewisses Recht zu seinen Studien an ihr zu haben. Immerhin betrog das Mädchen die ahnungslose Frau des Lehnerbauern. Frau Lehner war Paschke über die Wochen durchaus ans Herz gewachsen, zumal er eine gewisse Sympathie mit der Betrogenen empfand. Verstimmt und einsilbig kam er bei Elli Gutbrandt an. "Was ist denn los mit Ihnen, Herr Paschke, sie sind so ernst. Es scheint, sie wollen gar nicht mit mir reden. Dabei haben sie doch heute gar nichts getrunken", sagte sie. Paschke schaute erstaunt auf. Elli Gutbrands Worte amüsierten ihn. "Verzeihen Sie, Frau Gutbrandt", sagte er ruhig, "es ist nichts."
In den folgenden Tagen verbrachte Paschke viel Zeit auf seinem Zimmer. Er übte sich weiter an Annelieses Gesicht, legte die ersten beiden Zeichnungen von Anneliese mit dem Bauern neben Bilder, die er von ihrem Gesicht gezeichnet hatte und versuchte auf einem neuen Blatt die Körperteile und Annelieses Gesicht miteinander zu kombinieren. Doch es gelang ihm nicht, den Kopf in der richtigen Relation zum Körper zu zeichnen. Da er seit Annelieses Verweigerung über kein Übungsobjekt mehr verfügte, bat er Elli Gutbrandt, einige Portraits von ihr zeichnen zu dürfen. Elli errötete ein wenig, als Paschke ihr dieses Anliegen vortrug und willigte ein. Und so verbrachten sie von nun an manche Stunde am Vormittag damit, dass Elli Gutbrandt für Paschke Modell saß. Diese morgendliche Sitzung wurde allmählich eine feste Einrichtung im Tagesablauf, gleich nach dem gemeinsamen Frühstück, und mit der Zeit zeichnete Georg Paschke nicht mehr nur das Gesicht Elli Gutbrandts. Da war Elli, wie sie im Sessel saß. Elli, über ihre Heimarbeit gebeugt und im T-Shirt mit freien Schultern, wie sie mit der Hand ihren Nacken hielt und mit abgewandtem Kopf in die Krone eines Baumes hinaufsah. Elli, die auf dem Sofa hockte, in Hosen, in einem knielangen Kleid, im Bademantel mit gelöstem Haar. Allmählich erreichte Paschke im Zeichnen sehr gute Fertigkeiten. Oft saß er Abends in seinem Zimmer, betrachtete seine Blätter von Elli und war sehr zufrieden mit sich. Dann ging er zu ihr hinunter in die Stube und zeigte ihr seine Auswahl der gelungensten Zeichnungen. In diesen Tagen wuchs eine stille Vertrautheit zwischen den beiden heran. Georg Paschke fand, er mochte Ellis Gesicht, und ihre Gegenwart war ihm durch das Zeichnen vertraut geworden. Zudem hegte er ein Interesse an ihrem Körper, das zunächst ein eher anatomisches Interesse blieb. Er hätte sie gerne unbekleidet gemalt. Doch die Situation erlaubte es nicht. Es war keine Kunst, zu erraten, dass Elli über keinerlei Erfahrungen mit Nacktheit vor anderen Menschen verfügte und er wollte außerdem keine falschen Eindrücke bei ihr hervorrufen.


VII. Kapitel

Durch die Dauer seines Aufenthalts und das stundenlange, konzentrierte Zeichnen ging in Georg Paschke allmählich eine Veränderung vor sich. Er war immer schon ein im Grunde in sich zurückgezogener Mensch gewesen. Sein Umgang mit Menschen, den er in der Stadt häufig gepflegt hatte, hatte zwar nicht immer diesen Eindruck entstehen lassen, denn er war nicht wortkarg, wenn er mit Menschen verkehrte. Er behielt aber doch meist seine konzentriertesten Gedanken bei sich. Hier auf dem Lande wurde die seiner Natur entsprechende Zurückgezogenheit noch größer, da es ihm an ernstzunehmenden Gesprächspartnern fehlte. Die äußern Einflüsse auf sein Denken traten gegenüber seinen Vorstellungen zurück. Das heißt, er wurde ja kaum noch von einem Gedanken berührt, den ein anderer an ihn herantrug. Er war in der Welt seiner eigenen Wahrnehmungen und daraus geflochtenen Gedankengebäude völlig allein. Er vereinsamte. Kein, wie er feststellte, trauriger Vorgang, sondern eine Verdichtung seiner selbst, die eine Intensivierung seiner Sinne und Gedanken zur Folge hatte. Wie ein stilles Wachwerden in seinem Inneren kam es ihm vor. Er fühlte eine klare innere Ruhe, die sprachlos war. Seine Umgebung wurde zum Statisten dieser Ruhe. Die Menschen schienen ein Leben weit von ihm entfernt zu sein.
Die Momente, an denen er noch an sein Leben mit Anna in der Stadt dachte, wurden selten. Er beschäftigte sich mit sich und dem, was er sah. Manchmal saß er in seinem Zimmer vor dem Spiegel, der in die Tür des Kleiderschranks eingelassen war und zeichnete sich selbst. Augen, Nase, Mund. Finger, Hände, Unterarme, Ellbogen. Er saß nackt und zeichnete sein Geschlecht. In stiller Konzentration versunken. Er fertigte eine Serie an, die ihn nackt in seinem kleinen Zimmer zeigte, auf dem Bettrand kauernd, neben seinem Stuhl stehend, am Fenster sitzend, mit übereinander geschlagenen Beinen, rauchend. Er nahm eine Auswahl seiner Blätter auf seine Spaziergänge mit, um sie in anderer Umgebung lange zu betrachten. Er legte Zeichnungen von Elli neben Selbstbildnissen aus, kombinierte Annelieses Gesicht mit Zeichnungen vom Gesicht des Lehnerbauern, die er heimlich im Adler angefertigt hatte.
Elli Gutbrandt behandelte er höflich, fast scheu. Bei Gesprächen ließ er meist sie erzählen und sich von ihr in ihre einfachen Gedanken entführen. Elli war sehr froh um Georg Paschke. Sie sorgte für ihn über das Frühstück und das Abendessen hinaus, wusch seine Sachen, säuberte sein Zimmer und oft bereitete sie Tee und servierte Selbstgebackenes. Die Leute im Dorf schienen Paschke zu mögen und sie wurde niemals mehr auf provozierende Art und Weise auf ihn angesprochen, wie zu Beginn seines Aufenthalts. Das mochte daran liegen, dass sie sich nie zusammen mit Paschke im Dorf zeigte. Paschke hatte sie nie mehr zu einem Spaziergang eingeladen oder den Vorschlag gemacht, mit ihr in den Adler zu gehen. Inzwischen hätte Elli ihn gerne begleitet, doch sie traute sich nicht, ihn darauf anzusprechen. Er zeichnete sie oft, doch er machte ihr keine Anträge. Und Elli Gutbrandt war sehr erleichtert, dass sie nie mehr von den Männern des Dorfes belästigt worden war, seitdem Georg Paschke bei ihr wohnte. Das war ihr nach einiger Zeit aufgefallen und sie war dafür Paschke dankbar. Elli Gutbrandt hielt Paschke allmählich für einen Künstler. Denn nur von Künstlern konnte sie sich vorstellen, dass sie so zuvorkommend und dabei ohne jede Aufdringlichkeit seien. Ein wenig tat ihr Georg Paschke leid. Sie fand, er sei einsam, besonders, da er doch die Betriebsamkeit der Stadt gewöhnt sein müsse und ihre vielen Menschen. Sie hatte nie gesehen, dass Paschke Briefe schrieb oder erhielt. Nur ein Künstler könne so abgeschieden von der Welt sein, fand sie. Manchmal war sie in seiner Nähe ganz befangen und hielt ihn für warmherzig und gütig, weil er doch so viel Zeit mit ihr verbrachte.


VIII. Kapitel

Eines Tages war Pascke die Dorfstraße hinausgegangen, um in einem abgemähten Weizenfeld zu sitzen und seine Zeichnungen zu betrachten, als er den Lehnerbauern auf seinem Traktor auf einem Feldweg sah. Er schlug die Richtung auf diesen Feldweg ein um den Bauern vielleicht zeichnen zu können. Der Lehnerbauer hatte den Traktor mit dem anhängenden Wagen abgestellt. Im Näher kommen bemerkte Paschke Anneliese, die am Rand des Weges neben ihrem Fahrrad im Gras lag. Unwillkürlich duckte er sich hinter eine Hecke und näherte sich in ihrem Schutz den beiden. Der Lehnerbauer war vom Traktor gestiegen und stand neben Anneliese. Paschke konnte nicht hören, was sie redeten. Er hörte nur das Knattern des Traktors, dessen Motor der Bauer nicht abgestellt hatte. Der Bauer sah sich um. Paschke duckte sich. Als er wieder hinübersah hatte der Bauer den Traktor wieder bestiegen und lenkte ihn zum nahen Waldrand. Dort stellte er ihn ab. Paschke hörte nur noch den Wind. Anneliese lag nicht mehr neben ihrem Fahrrad. Paschke machte sich auf. Er eilte auf der Landstraße dem Waldrand entgegen, hielt sich dabei dicht an den Rändern der Sträucher, damit er vom Bauern nicht gesehen werden konnte. Die Straße führte in einiger Entfernung von der Stelle, wo der Bauer seinen Traktor abgestellt hatte, in den Wald. Paschke arbeitete sich, nun von den Bäumen gedeckt, auf den Bauern zu, der vom Traktor gestiegen war und wartete.
Paschke hatte ihn noch nicht ganz erreicht, da tauchte plötzlich Anneliese auf. Sie hatte das Maisfeld durchquert, das sich von der Stelle, wo noch ihr Fahrrad liegen musste, bis zum Waldrand erstreckte. Paschke blieb nicht lange. Er fertigte mit schnellen Strichen aus etwa 20 Metern Entfernung eine Zeichnung an. Der Traktor, der Wagen, der Bauer und Anneliese daneben im Gras, halbbekleidet bei ihrem Tun, der Waldrand, das Maisfeld. Dann eilte er zurück zur Landstraße, zum Feldweg, wo Annelieses Fahrrad lag. Er schraubte die Ventile aus den Rädern und nahm sie mit sich. Ein Gedanke war ihm gekommen, der sein Herz schneller schlagen ließ.

Am nächsten Samstag war er der erste Gast im Adler, als dort geöffnet wurde. Er ließ sich von Anneliese ein Bier bringen, trank es und verlangte zu bezahlen. Als Anneliese mit der Börse an seinen Tisch kam hielt er ihr die beiden Fahrradventile auf der flachen Hand hin. "Hier, bitte", sagte er nur. Anneliese schaute ihn an. In ihrem Blick war ein Erschrecken. Sie nahm nach einem Zögern die beiden Ventile aus Paschkes Hand. Sie sagte nichts. In ihrem Gesicht arbeitete es. Paschke sagte laut: "Es war sicher unangenehm, das Fahrrad ins Dorf zurück schieben zu müssen, nach ihrem romantischen Nachmittag. Ob die Lehnerbäuerin wohl Mitleid mit Ihnen gehabt hätte?" Er sah sie jetzt durchdringend an und sagte: "ich muss Ihnen noch etwas zeigen. Aber nicht hier. Wann und wo kann ich Sie einmal alleine treffen?" Anneliese wurde wütend. Ihr Blick wurde verächtlich. Sie blickte sich um. Niemand außer ihnen war im Lokal. "Lassen Sie mich in Ruhe!" sagte sie nur und ließ Paschke sitzen. Sie verschwand in der Küche. Paschke ging.
Er verbrachte den Abend mit Elli. Elli wunderte sich, warum er nicht wie gewöhnlich in den Adler ging, doch Paschke sagte nur: "heut wollte ich gerne bei Ihnen bleiben." Elli war froh, dass Paschke den Abend bei ihr blieb. Er erzählte vom Zeichnen, von seinen Spaziergängen. Elli sah ihm zu wie er redete. Er war etwas unruhig, so wie ihn Elli noch nicht kannte. Er sagte, er sei jetzt an einem Punkt angekommen, wo er beim Zeichnen nicht weiterkomme. Es stehe jetzt auf dem Spiel, ob es überhaupt einen Sinn gehabt hätte, damit zu beginnen. Elli ergriff Mitleid, obschon sie nichts verstand. Sie hätte Paschke gern geholfen, doch sie wusste nicht, wie. Als sie sich schließlich zum Schlafen verabschiedete, kam ihr der Gedanke, dass sie Paschke sehr gerne mochte. Sie trieb den Gedanken weiter, errötete und ging schnell auf ihr Zimmer.
Nachdem Elli zu Bett gegangen war, saß Paschke in seinem Zimmer und las. Es wurde spät. Er klappte das Buch zu, löschte das Licht und ging zum Fenster, um noch ein wenig in die Nacht zu schauen und eine Zigarette zu rauchen. Da sah er Anneliese. Sie stand zwischen den Büschen auf der gegenüberliegenden Straßenseite und rauchte. Paschke war plötzlich hellwach. Seine Hände zitterten vor Aufregung. Seine Andeutungen hatten offensichtlich auf Anneliese gewirkt. Sie war gekommen. Darauf war er nicht vorbereitet. Er musste schnell handeln. Jetzt gab ihm Anneliese Gelegenheit dazu. Paschke wusste, dass sie ihn nicht sehen konnte, da er das Licht gelöscht hatte. Er beobachtete sie. Anneliese stand noch eine Weile zwischen den Büschen, dann machte sie Anstalten, fortzugehen.
Paschke, schon im Schlafanzug, schlüpfte in seine Schuhe und schlich rasch hinaus. Er holte Anneliese schnell ein. "Ich habe Sie eben erst unter meinem Fenster bemerkt", sagte er, "warten Sie nur einen Moment, ich ziehe mir nur etwas über und komme sofort." Er schlich ins Haus zurück, zog sich etwas an und steckte einige Zeichnungen ein. Dann ging er wieder auf die Straße. Anneliese hatte gewartet.
"Ich bin gekommen um Ihnen zu sagen, dass ich mich nicht von Ihnen erpressen lasse!" sagte Anneliese. "Wenn Sie mich mit dem Lehnerbauern gesehen haben wollen, müssen Sie das erst einmal beweisen." Paschke dachte einen Moment lang nach. Er durfte jetzt keinen Fehler machen. Er antwortete nicht. Er schaute sie nur an und schwieg.
Das Dorf lag still. Kein Mensch war um diese Zeit mehr wach. Nur Wind ging leicht. Paschke führte Anneliese zu einer Laterne nahe beim Haus. Er öffnete seine Mappe und gab Anneliese wortlos eine der Zeichnungen. Anneliese hielt sie ins Licht und schaute sie entsetzt an. Es war die Zeichnung, die sie mit dem Bauern im Geräteschuppen zeigte. "Wie haben Sie...", begann sie. "Ich habe sie beobachtet, mehrmals", sagte Paschke nur.
Anneliese steckte die Zeichnung plötzlich in ihren Mantel. Paschke lächelte. "Behalten Sie sie ruhig als Andenken, ich habe noch andere." Anneliese schaute auf seine Mappe. "Sie haben noch andere? Sie haben uns nachspioniert?" fragte sie mit unterdrücktem Entsetzen. "Keine Sorge, ich werde sie niemandem zeigen", sagte Paschke. "Das heißt, falls wir miteinander einig werden", fügte er ernst hinzu. Anneliese erschrak. "Was wollen Sie von mir?" fragte sie vage. Paschke schwieg lange. Er schaute Anneliese an. Er bemerkte die leise Furcht in ihren Augen, obwohl ihr Gesichtsausdruck eher wütend war. Sie war noch jung. Paschke dachte daran, dass dies ein dunkler Moment in ihrem Leben war, an den sie sich erinnern würde. Sicherlich war ihr Verhältnis mit dem Lehnerbauern ein für sie recht sorglos begangener kleiner Betrug, ein Abenteuer. Das ihrem jungen Leben in der biederen, langweiligen Umgebung des Dorfes zu etwas Brisanz verhalf. Jetzt würde sie in den Fluch ihrer Lüge gezogen werden. Ihre Unschuld endgültig verlieren. 
"Ich möchte Sie zeichnen", sagte Paschke ruhig. "Sie sollen für mich Modell stehen. Nackt. Und Sie werden es niemandem erzählen, auch nicht dem Lehnerbauern. Dann wird niemand etwas von ihrem Verhältnis erfahren und niemand wird auch nur eine der Zeichnungen zu sehen bekommen. Das wird unsere Abmachung sein." Anneliese Augen waren groß geworden, als Paschke das Wort nackt ausgesprochen hatte. Als er schwieg schaute sie nervös an ihm vorbei. Sie fand keine Worte. Paschke griff in seinen Mantel, bot ihr eine Zigarette an. Anneliese nahm sie an. Er gab ihr Feuer. "Sie wollen mich also nur malen", sagte Anneliese vorsichtig. "Das ist alles, was Sie von mir wollen?" - "Ja, das ist alles was ich will", sagte Paschke.
Er steckte sich auch eine Zigarette an. Eine Weile war es ganz still. Paschke lächelte Anneliese zu. Sie erwiderte sein Lächeln kurz und hilflos. "Kommen Sie, gehn wir", sagte er. "Sie haben den ganzen Tag und die halbe Nacht gearbeitet, Sie müssen sich ausruhen." 
Anneliese ging stumm neben ihm her. Als sie an die Stelle kamen, wo sich ihre Wege trennten, sagte Paschke: "Kommen Sie übermorgen in das alte Bahnhofsgebäude. An der Schmalseite des Gebäudes gibt es eine Tür, die sich öffnen lässt. Dort wo der Kiosk war. Kommen Sie morgens gegen zehn Uhr. Achten Sie darauf, dass Sie niemand sieht." Anneliese nickte stumm. Sie trennten sich ohne Gruß.


IX. Kapitel

Am folgenden Morgen war Georg Paschke unruhig. Er schlug das Angebot Elli Gutbrands aus, mit ihr im Garten den späten Sommertag zu genießen, nahm seine Zeichenmappe und ging aus dem Dorf hinaus. Er fertigte viele Zeichnungen an. Er arbeitete schnell und versuchte, nicht an sein Abkommen mit Anneliese zu denken. Doch ein kräftiger Wind wehte und behinderte ihn in seiner Arbeit. Seine Blätter blieben nicht still unter seiner Hand, sein Stirnhaar schlug ihm in die Augenwinkel, so dass er vor Tränen blind war. Zuerst war er zornig, doch schließlich faltete er seine Mappe zusammen, packte die Stifte weg und lauschte auf den Wind. Er sah über die Felder und es fiel ihm ein, dass seine Bilder selten so viel wirre Bewegung zeigten. Er schaute lange schweigend in den irren Tanz der Halme, Zweige und Blätter. Selbst die Feldwege schienen sich zu bewegen zwischen den gepeitschten Büschen an ihrem Rande. Georg Paschke spürte, wie der Wind sein Hemd an seinem Körper flattern ließ. Die Windböen rissen Bahnen in die Getreidestauden, die sich in seinem Haar und an seinem Hemd fortsetzten. Er blickte den Stößen aus kühler Herbstluft schaudernd entgegen, wie sie über die Felder auf ihn zujagten. Er dachte an Annelieses weichen, dicklichen Körper, den er am nächsten Morgen zeichnen wollte. Es war schwer, in dieser Umgebung an die ölige, warme Haut eines Menschen zu denken. Und doch wie ein Wunsch. Georg Paschke erhob sich. Er würde zu Hause noch etwas üben, damit er am nächsten Tag fit wäre, wenn er Annelise zeichnen würde.

Beim Frühstück am nächsten Morgen mit Elli war Paschke nicht eben aufmerksam. Elli tadelte ihn im Scherz, doch er war nicht in der Stimmung, komisch zu sein. Er würde einen nackten Körper sehen und zeichnen können. Plötzlich befiel ihn die Furcht, Anneliese könnte sich nicht an die Abmachung halten. Vielleicht hatte sie auch den Lehnerbauern eingeweiht und die beiden lauerten ihm im alten Bahnhof auf. Er verabschiedete sich beherrscht freundlich von Elli wie auf einen seiner Morgenspaziergänge und eilte zum verlassenen Bahnhof.
Er schaute sich vorsichtig um, bevor er die morsche Tür an der Schmalseite des Bahnhofgebäudes öffnete und eintrat. Muffige Dunkelheit und Kühle umfing ihn. Sekundenlang sah er nichts und hörte nur sein Herz schlagen. Dann erkannte er den Raum. Er war leer. Nasser Staub bedeckte den Boden. Die ehemals weiß gekalkten Wände waren verschmutzt. Insekten hingen daran. Krabbelten hastig, wenn er in ihre Nähe kam. Er bewegte sich lautlos auf einen Durchlass zu einem angrenzenden Raum zu. Schaute hinein. An einem verbarrikadierten Fenster stand Anneliese. Sie blickte ihm nervös entgegen. Rauchte hastig. Paschke betrachtete sie sekundenlang. Beide schwiegen. Schließlich ging Paschke in den Raum, setzte sich auf den Rest einer alten Holzbank und packte seine Zeichensachen aus.
"Bitte", sagte er höflich zu Anneliese und machte eine Handbewegung. Anneliese, die ihn nicht aus den Augen gelassen hatte, schaute ihn groß an. "Soll ich mich jetzt einfach ausziehen?" fragte sie fast aggressiv. "Bitte", wiederholte Paschke nur, diesmal ohne eine Handbewegung.
Anneliese legte ihren Mantel ab, kickte ihre Schuhe fort, ließ ihren Rock fallen, schlüpfte aus der Strumpfhose. Sie stand in Bluse und Höschen, schaute Paschke an. "Stellen Sie sich an den Fensterrahmen und lehnen Sie Ihren rechten Arm an die Wand. Sie können ruhig eine rauchen. Halten Sie die Zigarette in der linken Hand." Die Anweisungen beruhigten Anneliese. Sie beugte sich zu ihrem Mantel und holte ihre Zigaretten hervor. Paschke stand auf, um ihr Feuer zu geben. Während sie es annahm sagte er: "Oh ja, gut, Sie können die Packung in der linken Hand halten und in der rechten die Zigarette halten. Stützen Sie sich mit dem rechten Ellbogen an die Mauer neben Ihrer Schulter." Anneliese nahm diese Stellung ein. Paschke betrachtete sie, als würde er sein Modell prüfen. "Öffnen sie jetzt die Bluse", sagte er schließlich. Annelise tat es. Ihre schweren Brüste wurden in dem Spalt der offenen Bluse sichtbar, doch sie blieben halb bedeckt. Paschke war zufrieden. Er zeichnete einige Bögen von der in der verbarrikadierten Fensteröffnung lehnenden, rauchenden Anneliese. Anneliese, auf einem Bein stehend, das andere eingeschlagen, an der Zigarette ziehend, das Gesicht dabei zur rechten Schulter gedreht, den Ellbogen höhergenommen, so dass der Spalt der Bluse sich weitete und die rechte Brust freigab, während die linke fast völlig verdeckt war. Anneliese, mit eng parallel stehenden Beinen, schräg, mit dem Ellbogen an die Mauer gelehnt, von dem der rechte Unterarm nach schräg vorn unten fiel, daran in der hängenden Hand die glimmende Zigarette, deren Rauch sich vor ihrem Gesicht kräuselte, die linke Hand, welche die Zigarettenpackung hielt, mit dem Daumen an der Hüfte in ihr Höschen eingehängt, was die Bluse von ihrer linken Hüfte nach hinten wegschob. Anneliese, die Beine leicht auseinander stehend, mit beiden Händen an hängenden Armen die Zigarettenpackung vor ihrem Höschen haltend, mit niedergeschlagenen Augen, rechts vor ihr ihre weggekickten Schuhe. Paschke war zufrieden. Anneliese wurde es kühl. Man trennte sich, ohne eine neue Sitzung vereinbart zu haben.


X. Kapitel

Wieder zurück in Elli Gutbrandts Haus ging Paschke fast grußlos auf sein Zimmer und studierte die Bögen, die er von Anneliese im alten Bahnhofsgebäude angefertigt hatte. Er studierte sie unkonzentriert, hastig. Er konnte es beinahe nicht glauben, dass er einen fast nackten Menschen gezeichnet hatte. Mit den Ergebnissen war er eher unzufrieden. Er war bei der Sitzung im alten Bahnhof wohl nervöser gewesen als Anneliese selbst. Bald schon ärgerte er sich über einige sehr augenscheinliche Fehler, die ihm unterlaufen waren. Am liebsten wäre er gleich zum Adler gegangen, um Anneliese zu einer zweiten Sitzung zu drängen. Doch er musste sich beherrschen.
Am Abend ging er hinunter in die Stube zu Elli und dem Abendbrot. Er aß schweigend. "Was haben Sie, Herr Paschke", fragte Elli Gutbrandt, "Sie scheinen heute etwas bedrückt." Paschke schaute gequält zu Elli hinüber. "Ach, es ist wegen meiner Zeichnungen", sagte er. "Ich habe begonnen, Körperstudien zu betreiben, aber ich kann nur von Bildern abzeichnen. Es fehlt mir ein lebendiges Modell." Elli zog die Augenbrauen hinauf und entgegnete in aller Unschuld: "Aber Sie haben doch mich als Modell." Paschke lächelte gequält. "Ich möchte Sie nicht kompromittieren Elli, aber hier verstehen Sie etwas falsch. Was ich dringend bräuchte um in meiner Arbeit weiterzukommen ist ein Aktmodell." Elli Gutbrandt machte große Augen. "Aber Herr Paschke!" sagte sie. Paschke dachte, Ihre Entrüstung richte sich dagegen, dass er sie zum ersten Mal mit ihrem Vornamen angeredet hatte. Doch Elli hatte nur keinen Begriff davon, was kompromittieren sei und im Zusammenhang mit Aktmodellen stellte sie sich vage irgend etwas Ungeheuerliches vor, was mit Nacktheit und dem Gefühl zu tun hatte, das sich in ihr einstellte, wenn sie sich ihre eigene Nacktheit vor einem anderen vorstellte. Sie ließen von diesem Thema ab und trennten sich wenig später.
Paschke verzichtete auf seinen Besuch im Adler, denn er wollte Anneliese nicht begegnen, und begab sich auf sein Zimmer. Er schrieb sein Tagebuch und studierte, jetzt ganz ruhig, die Zeichnungen von Anneliese.

Elli Gutbrandt war früh zu Bett gegangen und lag wach. Ihre Vorstellungen zu dem Wort kompromittieren und vom Aktmodellstehen beschäftigten sie tief. Sie war von einer ihr ganz neuen Art von Erregtheit ergriffen und wurde sie nicht mehr los. Sie stand auf und trat vor einen Spiegel in ihrem Zimmer. Sie ließ ihr Nachthemd über ihre Schultern gleiten, stand bis zur Hüfte nackt und betrachtete ihr Bild. `Ich möchte Sie nicht kompromittieren, Elli´, ging ihr durch den Kopf, gemischt mit einem Schauer. Sie hörte Paschke sich oben in seinem Zimmer regen und blickte erschrocken zur Decke. Dabei ließ sie das Nachthemd vollends fallen und stand völlig nackt, als sie sich wieder ihrem Bild im Spiegel zuwandte. Sie suchte ihren Körper nach einem Makel ab, denn sie stellte sich vor, sie stehe Modell. Als sie es gewahr wurde musste sie lächeln. Doch sie wurde sofort wieder ernst. Sie dachte an die Jungen, die sie entkleidet und ausgelacht hatten und erforschte ihre Körperformen weiter nach Fehlern. Sie konnte eigentlich keine finden und legte sich schließlich sehr nachdenklich schlafen.


XI. Kapitel

Paschke fuhr am folgenden Tag mit dem Bus in eine kleinere Stadt in der Umgebung, um sich ein Buch über den steinzeitlichen Menschen zu kaufen. Sein langes Stehen im leeren Wind über der Landschaft, sein geduldiges Lauern auf Anneliese und den Lehnerbauern, hatten ihn an einen spähenden Jäger aus einer frühen Epoche der Menschheit erinnert. Elli, die viel las, hatte ihm einen Buchladen in der nahen Kreisstadt genannt von dem sie glaubte, er sei für eine Buchhandlung in einer so kleinen Stadt außergewöhnlich gut bestückt. Paschke war zwar etwas skeptisch, was den Rat von Elli betraf, doch er wollte es versuchen. Elli hatte ihm angetragen, dem Inhaber, den sie gut kenne, Grüße auszurichten. Nach Ellis Beschreibung fand er den Laden sofort. Er lag an einer Straße in der Kleinstadt, die bereits jenseits des Bereichs von Volksbank, Supermarkt und Kundenparkplätzen lag, in der sich jedoch noch einige kleine Gemüse, Schreibwaren und Bekleidungsgeschäfte gehalten hatten. Paschke trat ein, ohne sich das Schaufenster betrachtet zu haben, erkundigte sich bei einer jungen Frau nach dem Inhaber und wurde nach hinten in einen Geschäftsraum verwiesen, den er durch einen langen Gang erreichte. Dort saß ein Mann mittleren Alters an einem Tisch. Paschke stellte sich vor, richtete Ellis Grüße aus und trug seinen Wunsch vor. Der Mann zog die Augenbrauen hinauf und nickte langsam. "Der Mensch in der Steinzeit", wiederholte er langsam. Dann sagte er nach einer Pause: "Möchten Sie ein eher ein rein wissenschaftliches Buch oder ein populärwissenschaftliches mit Illustrationen?" - Paschke lächelte. "Wäre gar nicht schlecht, wenn es Illustrationen enthielte. Sie meinen sicher gemalte Bilder, wie man sich das Leben des Menschen zur Steinzeit so vorstellt?" - "Ja genau. Die rein wissenschaftlichen Werke enthalten allenfalls Fotos von Fundstücken. Die populärwissenschaftlichen sind mit gemalten Bildern illustriert." - "Gut, dann möchte ich gerne eines mit Illustrationen." - "Auf Ihren Wunsch bin ich hier allerdings leider nicht vorbereitet. Aber ich mache Ihnen einen Vorschlag: ich habe Frau Gutbrandt lange nicht mehr gesehen. Sie ist eine gute Kundin von mir und gelegentlich habe ich bei ihr auf eine Tasse Kaffee hereingeschaut, wenn ich unterwegs war und zufällig in Holzstetten vorbeikam. Übermorgen bin ich in der Gegend. Ich könnte so gegen sechzehn Uhr bei Ihnen sein und Ihnen Ihr Buch gleich mitbringen. Wenn Sie vielleicht in einer halben Stunde noch einmal vorbeischauen wollen, dann habe ich bis dann die lieferbaren Titel zusammengesucht und Sie sagen mir, welchen ich besorgen soll". Paschke willigte ein, und um nicht ganz umsonst in die Stadt gefahren zu sein, kaufte er ein Exemplar von Madame Bovary, um es Elli mitzubringen. Die halbe Stunde Wartezeit verbrachte er im Laden und fand einen Katalog mit Bildern von Egon Schiele, den er aber nicht bezahlen konnte.

Zwei Tage später kam der Buchhändler nachmittags bei Elli Gutbrandt vorbei, die drei setzten sich in den Garten und tranken Kaffee. Die Sprache kam auf Paschkes Zeichnen und auf die Bitte des Buchhändlers zeigte ihm Paschke oben im Zimmer, ohne Ellis Beisein, seine Zeichnungen. Der Buchhändler war über die Akte von Anneliese und dem Lehnerbauern ziemlich überrascht, zum einen, weil davon im Garten zuvor nicht die Rede gewesen war und zum anderen, da ihn ihre Qualität überzeugte. "Und Sie haben erst vor wenigen Wochen mit dem Zeichen begonnen?" fragte er. Paschke lächelte: "Nein, ich bin überhaupt nicht begabt, ich habe nur sehr viel Zeit." Der Buchhändler musste lachen. "Entschuldigen Sie, sagte er, aber ich glaube wirklich, dass Ihre Zeichnungen mehr sind, als die Studien eines Hobbymalers. Sie sollten einmal mit mir einen Bekannten besuchen, der in der Stadt aus der sie kommen eine Galerie hat. Ich glaube, der könnte sich eventuell für ihre
Sachen interessieren." - "Sie meinen, er könnte eventuell Abnehmer dafür finden?" fragte Paschke. "Ich bin nämlich ziemlich pleite." Der Buchhändler zuckte mit den Schultern. Dann sagte er: "Ich schlage Ihnen das eher aus Egoismus vor. Denn diese Zeichnungen gefallen mir wirklich. Wenn Sie wollen, könnten Sie mir eine verkaufen." Paschke rieb sich am Kinn und überlegte. "Welche wollen Sie?" fragte er. Der Buchhändler nahm eine von Paschkes Zusammenstellungen von Ansichten Annelieses und des Lehnerbauern. "Diese hier. Ich gebe Ihnen 1000 Mark, ist das in Ordnung?" Pascke lachte. "Natürlich, das ist ja schon eine Halbjahresmiete hier, wissen Sie."
Als der Buchhändler schließlich abfuhr, nahm er noch eine Mappe mit Zeichnungen mit, um sie seinem Galleristenfreund zu zeigen. Paschke wollte lieber nicht dabeisein, außerdem war ihm der Gedanke unangenehm, wieder in die Stadt zu kommen. Sie vereinbarten, dass Paschke in den kommenden Wochen einmal im Buchladen vorbeikommen solle, um zu hören, was der Galerist zu seinen Zeichnungen zu sagen hätte.

Abends ging Paschke in den Adler. Als Anneliese ihm mit einem schüchternen Blick sein Abendessen hinstellte, sagte er: "Morgen treffe ich Sie gegen zehn Uhr vormittags wieder im alten Bahnhof." - "Sie wollen mich wieder malen?" fragte sie leis. Paschke lächelte und nickte leicht. Anneliese sah ihn an. "Ich werde da sein."
Anneliese hatte mit dem Gedanken gespielt, dem Lehnerbauern von Paschkes Wissen um ihre Affäre zu erzählen. Der Lehnerbauer war ein kräftiger Kerl und hätte Paschke drohen können. Doch nachdem die erste Sitzung vorbeigegangen war, ohne Anneliese allzu unangenehm zu sein, hatte sie ihr Vorhaben erst einmal aufgeschoben. Es schmeichelte ihr, dass ihr stattlicher Körper jemandes Aufmerksamkeit erregte. Der Lehnerbauer war nicht eben ein galanter Liebhaber. Er ging eher derb zur Sache, was Anneliese zwar recht war, doch machte er ihr nie ein Kompliment, so wie sie es aus Groschenromanen kannte. Dieser Paschke hatte ihr zwar auch kein direktes Kompliment gemacht, doch er war höflich gewesen, hatte einige Male auch Worte wie: `ja, so ist es schön', oder: `das ist sehr gut', gesagt, wenn sie sich nur etwas gedreht oder eine andere Haltung eingenommen hatte. Diese Worte waren ihr nach Tagen immer wieder in Erinnerung gekommen. Sie schienen ihr auf eine Weise befriedigend zu sein, die sie noch nicht kannte.

Am Morgen probierte Anneliese vor dem Spiegel Posituren aus. Sie war vergnügt und ihre gute Laune verschwand erst, als es Zeit wurde, zum alten Bahnhofsgebäude aufzubrechen. Ihr Herz schlug wieder, wie beim ersten Mal, aber die Furcht war nicht mehr da, nur eine elektrisierende Nervosität. Sie schaute sich um, als sie sich dem Bahnhof näherte, doch niemand sah sie. Sie öffnete die Eingangstür und schlüpfte hinein. Paschke saß an dem verbarrikadierten Fenster, schaute hinaus und rauchte. "Guten Morgen", sagte er freundlich. "Kommen Sie, ich habe uns Kaffee mitgebracht. Trinken wir erst einmal eine Tasse und rauchen eine zusammen." Er goss aus einer großen Thermoskanne Kaffee ein. "Ziehen Sie sich ruhig schon einmal aus, dann ist die erste Scheu nachher weg, wenn ich beginne Sie zu zeichnen." Anneliese legte ihre Kleidung ab bis auf den Schlüpfer. Paschke reichte ihr ein mitgebrachtes Stück von dem Kuchen, den Elli Gutbrandt am Vortag beim Kaffeetrinken mit dem Buchhändler gereicht hatte. Anneliese balancierte es auf einer Hand und brach mit der anderen Stücke davon los, die sie aß. "Halt", sagte Paschke. "Bitte halten Sie den Kuchen so auf der flachen Hand hoch, wie Sie es eben getan haben." Er begann zu arbeiten.
Draußen war es bewölkt und graues, steinernes Licht lag matt auf den Farben von Annelieses Körper. Ihre Haut erschien nicht mehr ölig, sondern wie aus nassem Sand und aus dem dunklen Rot ihrer geschminkten Lippen und lackierten Finger- und Zehennägel schien tief ein bläulicher Schimmer zu leuchten. Ein Baum vor dem Fenster streute eine grünliche Lichtbahn durch die Ritzen des verbarrikadierten Fensters. Paschke sah auf. Seine Augen weiteten sich. "Mein Gott" flüsterte er. Anneliese wurde dadurch ziemlich verunsichert. Sie sah, wie Paschke hastig mit Buntstiften und Wachskreiden auf dem Papier hantierte. Er gab kurze, knappe Anweisungen, wie sie sich zu stellen hatte. Anneliese wusste einen Moment nicht, ob sie sich fürchten müsste. Doch als Pascke endlich aufatmete und ihr Kaffee und eine Zigarette anbot, schloss sie, dass sie ihm heute wohl sehr gefalle. Als er einmal nicht hinsah, zog sie rasch ihren Schlüpfer aus und setzte sich so auf eine alte Holzbank, dass Paschke, als er sich wieder umdrehte, ihr Geschlechtsorgan sehen konnte. Er versuchte, sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen und griff seinen Zeichenblock, rückte seinen Schemel näher zu ihr und begann zu zeichnen. Anneliese hatte einen Fuß auf die Sitzfläche der Bank genommen und das Knie wie zum halben Schneidersitz nach außen gelegt. Jetzt lehnte sie sich nach hinten an und zog das Knie des anderen Beins unters Kinn.
Paschke zeichnete sehr konzentriert, um nicht von der Fassungslosigkeit ergriffen zu werden, die die obszöne Haltung dieser fetten jungen Frau direkt vor seinem Gesicht in ihm auslöste. Er arbeitete jetzt viel mit seinen Wachskreiden und versuchte, die Einzelheiten an Annelieses fettstrotzender Anatomie nicht allzu sehr zu beachten. Doch zuletzt nahm er eine Tuschfeder und zeichnete die Konturen von Annelieses geöffneten, prallen Schenkeln und ihrem Geschlechtsteil zwischen dem krausen, schwarzen Haar nur in schwarzen, feinen Tuschlinien.

Zurück in Ellis Haus in seinem Eckzimmer legte er die angefertigten Zeichnungen auf Bett und Boden aus. Etwas war geschehen. Die Schattierungen der Wachskreiden und Buntstifte, die nicht die tatsächlichen Farben von Annelieses Fleisch wiedergaben, erzeugten in ihrer Wirkung einen tiefen und instinktiven Blick beim Betrachten. Paschke kannte die Hässlichkeit von Annelieses nacktem Fleisch und konnte doch den Blick lange nicht von den Zeichnungen nehmen. Schließlich ging er hinunter, um mit Elli zu plaudern. Doch es vermochte nicht, ihn abzulenken. Er ging wieder hinauf und schaute die Zeichnungen an. Ein vorsprachlicher, vorgedanklicher Blick wurde von diesen Zeichnungen in seinem Inneren erzeugt, der seine Augen weitete und schwarz aus seinen Pupillen stach. Paschke versuchte sich zu erinnern. Dieses Gefühl war ihm schon einmal begegnet. Oft. Die Nacht mit dem mächtigen Wind! Eine dieser Macht verwandte Kraft erzeugten diese Bilder. Die Kraft des Raubtieres, das Lauern vor dem Zuschlagen, vor dem Packen der Beute.


XII. Kapitel

Georg Paschke und Elli Gutbrandt saßen im Garten des Hauses. Elli las in Madame Bovary und Paschke sah sich die Illustrationen in seinem Buch über die Steinzeit an. Irgendein namenloser `Künstler' hatte Darstellungen davon erstellt, wie man sich das Leben des Menschen zur Steinzeit vorstellte. Es waren Bilder, die eine Horde steinzeitlicher Menschen bei ihren alltäglichen Verrichtungen zeigten. Wie sie ein Mammut töteten, das in einen Sumpf geraten war. Wie sie es zerlegten, das Fleisch an Stangen über ihren Schultern forttrugen. Wie sie Essen bereiteten an ihren Feuern. Wie sie Werkzeuge schliffen, Steine behauten, Leder gerbten. Naive, volkskundliche Darstellungen, die alle durch die Farbgebung der spärlichen Kleidung dieser Menschen einen Hauch von Fremde und Exotik erhielten, denn, so hatte sich der `Künstler' sicher gedacht, man sollte ja sehen können, dass das was auf den Bildern geschieht ganz furchtbar lange her ist. 
Paschke ärgerte die Harmlosigkeit dieser Darstellungen. Diese Menschen hatten eben ein Mammut getötet. Sie hatten es zerrissen. Sie würden sich sattessen können. Und diese Bilder machten das alles zu einem harmlosen Dorffest. Er blickte auf, in den Baum über ihren Stühlen. Er sah den Wind in den Blättern. Er blickte zu Elli hinüber, die völlig gefesselt las. In ihrem Gesicht arbeitete es von Zeit zu Zeit. Erstaunen, Freude, Rührung, Furcht. Die gute Seele, dachte er. Ein Wagen fuhr vor und hielt vor dem Haus. Paschke und Elli drehten sich zu ihm um. Es war ein Postauto. Ein Paket wurde abgegeben. Es kam von dem Buchhändler. Es enthielt für Paschke
den Katalog mit den Bildern von Egon Schiele und für Elli ein Buch mit Fotos aus der Bretagne. Eine Karte war beigefügt: 

Liebe Frau Gutbrandt,
lieber Herr Paschke,

Nochmals Dank für den netten Nachmittag.
Ich hoffe, die Geschenke freuen Sie. Da Sie,
Frau Gutbrandt, ja gerade die Bovary lesen, dachte
ich, soll Ihnen die Bretagne nicht unbekannt
bleiben, und Sie, Herr Paschke, sollen den Schiele
doch haben. 

Grüße aus dem Buchladen

"Ist er nicht ein reizender Herr?" sagte Elli gerührt. "Oh doch, das ist er wirklich", sagte Paschke und betrachtete staunend den teuren Schielekatalog. Er blätterte darin. Dann legte er ihn beiseite. Er würde ihn später in Ruhe ausführlichst studieren müssen. "Darf ich mal sehen?" fragte Elli. Paschke gab ihr den Katalog. Elli blätterte darin. Paschke sah, wie sie errötete. "Kennen Sie Schiele?" fragte er. Elli blickte auf. "Nein." - "Gefällt Ihnen die Art, wie er malt?" Elli blätterte. "Ja, schon, ich glaube. Er malt viele Akte, nicht?" - "Ja, er hat viele Akte gemalt. Auch von ganz jungen Burschen. Das brachte ihn damals in Verruf und er musste vor Gericht."
Elli schien nachzudenken. Sie erschrak beim Blättern über einige der Bilder sehr. Andere schienen sie wirklich anzusprechen. Sie zeigte Paschke eines der Bilder, auf dem eine junge Frau in grünem Pullover und beiger Hose auf dem Boden kauert und zum Betrachter aufsieht. "Das ist sehr hübsch. Sie sieht so lebendig aus. Man will sie anfassen." Paschke lächelte. "Ja, das will man. Er war ein sehr guter Zeichner." - "Dann können Sie von den Bildern sicher noch etwas lernen", sagte Elli. Sie schien sofort über ihre Worte zu erschrecken, denn es waren ja auch viel freizügigere Bilder in dem Katalog. "Ich hoffe, ja", sagte Paschke. "Ich müsste mich nur auch nach Modellen umsehen. Das wird hier auf dem Lande schwer sein." Elli errötete wieder und schwieg.

In dieser Nacht schlief Georg Paschke nicht. Er studierte den Schielekatalog und seine eigenen Zeichnungen. Er setzte sich nackt auf den Boden vor dem Spiegel und zeichnete sich. Er arbeitete sehr konzentriert. Manchmal löschte er das Licht, öffnete das Fenster und schaute in die Nacht hinaus. Es gelang ihm ein düsteres Bild, auf dem er nackt auf dem Fenstersims sitzt und raucht, mit dem Rücken an den Fensterrahmen gelehnt, das Nachtdunkel setzt sich in seinen Augen fort, auf seinem Gesicht, Schatten fallen und verdecken Körperlinien, andere tauchen aus dem Dunkel auf, man erkennt nicht, man ahnt, man will hingehn, um besser zu sehen. Er hielt es neben das Bild von Anneliese auf der Bank im alten Bahnhof und fand, diese Bilder gehörten zusammen. Er erstellte eine Mappe aus den Bildern, die er zuletzt von Anneliese gezeichnet hatte und den besten dieser Nacht. Bilder, in denen die Kraft des Lauerns lag. Er sah sie lange durch. Er fand, dass man vor diesen Bildern nicht nur Lauernder, sondern auch Belauerter war. Er schüttelte den Kopf. Er war vielleicht nur sehr müde und begann zu phantasieren. Es wurde bereits hell draußen. Mitten zwischen seinen Zeichnungen legte er sich aufs Bett und schlief sofort schwer und tief.

Elli hatte noch lange wach gelegen und Paschke oben hantieren gehört. Sie schämte sich. Sicher studierte er dort oben die Akte von diesem Schiele, die sie so erschreckt hatten. Sie hatte noch nie Bilder von Nackten gesehen, die ihr so nahe gingen. An die rosigen Nackedeis aus den Fernsehzeitschriften hatte sie sich längst gewöhnt. Doch die waren ja richtig harmlos gegen die Akte, die sie in dem Katalog gesehen hatte. Sie fragte sich, woran das wohl lag. Denn in den Zeitschriften waren immerhin Fotos von Menschen, so wie sie eben nackt aussahen, während die Akte von Schiele oft eigentlich gar nicht sehr wahrheitsgetreu aussahen und auch nicht viel freizügiger waren. Und doch war die Nacktheit in diesen Akten offener als irgendein Foto, das sie je gesehen hatte. Das, so philosophierte sie, ist wahrscheinlich die Kunst. Die Kunst machte die Nacktheit nackter als irgendein Foto es tat. Sie stand noch einmal auf und betrachtete ein Portrait, das Paschke von ihr gezeichnet hatte. Auch dieses Portrait zeigte sie direkter als irgendein Foto, das sie von sich besaß. Sie hörte Paschke oben im Zimmer herumgehen. Sie überlegte sich, ob sie nach oben gehen solle, bei ihm klopfen und fragen, ob sie sich mit ihm über die Akte unterhalten dürfe. Doch dann schämte sie sich, an der Sache soviel Interesse zu haben. Was sollte Paschke denn von ihr denken. Mitten in der Nacht im Schlafhemd zu ihm ins Zimmer zu kommen, um mit ihm über Nacktdarstellungen zu reden. Schließlich schlief sie ein.

Paschke kam am Morgen erst sehr spät zum Frühstück herunter. Er entschuldigte sich bei Elli für sein spätes Aufstehen, er habe die ganze Nacht gearbeitet, vielmehr gezeichnet. "Ihr Zeichnen ist sehr wichtig für Sie geworden, nicht wahr", sagte Elli nachdenklich. Sie bewunderte Paschke dafür, dass er sich so intensiv mit seinen Zeichnungen beschäftigte. Paschke sah auf. "Ja", sagte er, "das ist richtig. Es erstaunt mich selbst auch. Sehen Sie, als ich hier ankam, hätte ich es noch nicht geglaubt, dass ich überhaupt damit beginnen würde. Ich wusste eigentlich überhaupt nicht, was ich hier tun würde. Ich wollte im Grunde nur erst einmal aus der Stadt weg. Ich bin froh, dass mir eine solche Beschäftigung möglich ist. Ich hätte das nicht für möglich gehalten. Und jetzt werden Sie vielleicht sogar etwas Geld damit verdienen können", sagte Elli plötzlich munter. Paschke lächelte und sah sie an. "Tja, hoffen wir's." Elli wollte ihn aufmuntern. "Sicher werden den Leuten ihre Zeichnungen gefallen. Ich finde sie jedenfalls sehr hübsch." Paschke musste lachen. "Warum lachen Sie?" fragte sie. "Nun Elli, für die Zeichnungen, die Sie von mir gesehen haben werden die Leute sicher kein Geld ausgeben wollen!" - "Aber der Herr Buchhändler hat doch gesagt, er werde sie in die Galerie bringen. Vielleicht werden ja ein paar davon verkauft." Paschke wurde ernst. "Elli", sagte er, "was der Herr da mitgenommen hat, waren alles Aktzeichnungen. Das interessiert die Leute mehr als Landschaftsbilder oder Portraits. Er kennt sich da aus. Es sind Bilder, die ich Ihnen nie gezeigt habe." Elli schwieg. Dann sagte sie: "Aber daran ist doch eigentlich nichts Schlimmes. Alle Maler haben Akte gemalt. Ich wusste nur nicht, dass Sie auch Akte malen. Sie sagten doch, Sie hätten gar keine Modelle." - "Ich habe mich selbst als Modell. Und durch besondere Umstände noch zwei andere Personen." Elli schaute ruckartig auf. "Hier im Dorf!?" fragte sie, "wer von den Leuten hier steht denn Modell für Aktzeichnungen?" Sie schüttelte ungläubig den Kopf. "Nun ja, wie ich sagte, allein durch besondere Umstände bin ich zu dem Privileg gekommen, nackte Menschen abzeichnen zu können. Aber es ist eine eher schmutzige Geschichte, die dazu geführt hat. Ich möchte sie Ihnen gar nicht erzählen. Und ich stieß rein zufällig darauf, ohne es zu wollen. Bräuchte ich nicht so dringend Modelle, hätte ich mich um diese Geschichte überhaupt nicht gekümmert." Elli Gutbrandt schüttelte wieder den Kopf. Eine schmutzige Geschichte hier im Dorf. Sie konnte sich überhaupt nichts darunter vorstellen, und dadurch erzeugten diese Worte in ihr das Gefühl, dass es eine ungeheuerliche Schandtat sei, die da über dem Dorf hing. Paschke schaute ihr in die Augen. "Elli, können Sie ein Geheimnis für sich behalten?" fragte er ernst. Elli sah ihn erschrocken an. In ihr arbeitete es. Sie fürchtete sich vor allem Schändlichen, am liebsten wollte sie gar nicht wissen, dass es existierte. Doch sie ahnte, dass Georg Paschke, der ihr ans Herz gewachsen war, sie darum bat, seine Vertraute in der Sache zu werden. Also sagte sie ja. Paschke ging in sein Zimmer und nahm einige der Zeichnungen von Anneliese und dem Lehnerbauern mit nach unten. Er legte sie vor Elli auf den Tisch. Elli betrachtete sie mit großen Augen. Sie wandte sich erst schnell wieder ab, doch dann fasste sie sich und blickte beinah kühl auf die Blätter. Sie atmete hörbar durch, trank ihren Tee aus und wandte sich nun ganz ruhig den Zeichnungen zu. Sie glaubte, jetzt eine große Verantwortung auf sich nehmen zu müssen, und sie glaubte es für Paschke zu tun. Sie wollte diese Prüfung vor dem freundlichen Mann aus der Stadt für ihn bestehen. Mit einer einzigen Willensaufwendung, die nicht der Größe entbehrte, setzte sie sich in den Bruchteilen einer Sekunde über ihre ganze dörfliche Herkunft hinweg und war eine selbstbewusste, aufmerksame Betrachterin einer handvoll Zeichnungen, die dazu dienen sollten, sie in etwas einzuweihen. "Schau, schau, der Lehnerbauer also und die Anneliese aus dem Adler", sagte mit distanziertem Amüsement, wie sie es einmal in einem Film bei einer Schauspielerin gesehen hatte. Paschke legte ihr die Zeichnungen jetzt einzeln vor. "Und die beiden stehen Ihnen Modell?" - "Ich habe sie bei ihrer Affäre überrascht und sie gezeichnet, ohne dass sie es wussten. Jetzt allerdings erpresse ich Anneliese mit meinem Wissen, damit sie mir Modell steht." Elli räusperte sich. "Geradezu perfide" , sagte sie, "aber sie hat es sich ja selbst zuzuschreiben, nicht wahr? Das kleine Luder!"
Paschke war nicht schlecht erstaunt über Ellis Rede. Nun sagte sie sogar noch: "Aber ganz nebenbei mein lieber Herr Paschke, die Zeichnungen sind doch sehr gut gelungen. Ich denke schon, dass sie jemandem gefallen könnten." Paschke verstand die Welt nicht mehr. Er überlegte. "Mal im Ernst Elli, gefallen Ihnen denn diese Bilder hier? Ich meine, finden Sie sie gut gezeichnet, mal von den Beiden abgesehen?" Elli schwieg eine Weile. Dann sagte sie, jetzt wieder vorsichtig: "Ich weiß nicht, vielleicht kann ich das gar nicht beurteilen. Ich habe mir nicht gerade viele Akte angesehen." Sie errötete sogar. Paschke sagte: "Ich werde Ihnen meinen Schielekatalog ausleihen, dann können Sie einmal wirklich gut gezeichnete Akte studieren, warten Sie." Er eilte noch einmal in sein Zimmer und holte den Katalog. Neben ihm lagen einige Zeichnungen die er von sich selbst angefertigt hatte. Er zögerte einen kurzen Moment. Dann nahm er auch sie mit nach unten. Ein Mitteilungsrausch hatte ihn ergriffen. "Ich hatte Ihnen doch erzählt, dass ich auch mich selbst als Modell habe", begann er, "sehen Sie." Und er legte die Zeichnungen vor Elli auf den Tisch, die ihn nackt auf dem Fensterbrett und auf dem Boden sitzend zeigten. Elli zuckte zusammen und schloss kurz die Augen. Dann irrten ihre Augen auf den Bildern umher. Sie zitterte leicht. Paschke begriff, dass sie zuvor über sich hinausgewachsen gewesen war, und vor allem, dass sie noch nie einen nackten Mann gesehen hatte, zumindest noch nie ein männliches Geschlechtsteil. Er hätte sich ohrfeigen können. Das hätte er wissen und bedenken müssen. Doch jetzt war es zu spät. Es waren vollendete Tatsachen geschaffen und er konnte nicht mehr zurück. Er erging sich in unverfänglichen Erläuterungen zu den Zeichnungen, wies auf eine Schattierung hin, auf eine Perspektive, erläuterte die handwerklichen Schwierigkeiten und die Finessen, die mit ihnen fertig wurden, erzählte, wie froh er war, wenn er eine Schwierigkeit in den Griff bekam, wie schwer es manchmal war, von einer Zeichnung im rechten Moment abzulassen, weil sie fertig war. Elli gewann nach und nach ihre Fassung zurück, kommentierte vorsichtig, wurde sicherer, als Paschke ihre Äußerungen aufmerksam aufnahm und weiterspann, manchmal sah sie ihn schließlich sogar an, wenn sie etwas sagte und zuletzt lächelte sie mitfühlend, als Paschke sagte, er sei doch sehr froh, dass sie jetzt wisse, womit er sich all die Wochen so intensiv beschäftigt habe, denn man lebe ja nun einmal unter einem Dach und er möge Geheimnisse nicht, wenn ihm jemand sympathisch sei. Zuletzt packte er die Zeichnungen beiseite und sie tranken weiter Tee und plauderten über den freundlichen Buchhändler, der sich so uneigennützig um Paschkes Bilder kümmerte, über Flaubert und Madame Bovary, sie bedauerten die arme Lehnerbäuerin und lachten bei der Vorstellung, wie die dicke Anneliese sich in enge Verstecke zwängen musste, um dort heimlich ihren Liebhaber zu empfangen. Erleichtert erhoben sie sich schließlich, Elli, um einkaufen zu gehen und Paschke, um seine Zeichensachen zu holen und zu einem Spaziergang aufzubrechen.


XIII. Kapitel

Er ging zum Dorf hinaus und einen Fußweg entlang, der durch Felder führte, die einen Hügel überspannten. Auf der Kuppe angekommen drehte er sich nach dem Dorf um. Dunkle Wolken zogen tief und schnell. Es war ein später Sommertag, in dem sich bereits der kommende Herbst ankündigte. Paschkes Blick schweifte über die sanften Landschaftsformen, in die das Dorf eingebettet lag. Er setzte sich, um ein Bild zu zeichnen. Er umriss zunächst die Linien der Landschaft und die Form des Dorfes mit Strichen, wie er sie beim Zeichnen seiner Akte angewandt hatte: die anatomischen Wölbungen der Hügel, die Augenhöhlen der Teiche, der Flusslauf, ein an einen Körper gepresster Arm. Die Farben des stürmischen Tages verlangten nach den steinernen Grautönen, die er mit seinen Wachskreiden und Graphitstiften zu erzeugen gelernt hatte, so dass aus diesen grauen, sandigen Farben eine doch warme Tönung sprach. Die Perspektiven wurden durch die Betonung der Formen als Körper ins Schräge, Lebendige verzogen, zwischen den Hügeln und Häusern standen Haarbüschel, Wimpern, Brauen. Paschke arbeitete lange und still und brach erst ab, als er bemerkte, dass ihm sehr kalt war. Es war inzwischen spät am Nachmittag und er ging zum Adler, um sich bei einem Tee aufzuwärmen.

Die Adlerwirtin brachte ihm den Tee. Die Gaststube war leer und er zeichnete das Teegeschirr auf dem Tisch, daneben sein Feuerzeug und seine Zigaretten, den Aschenbecher. Er holte die Zeichnung der Landschaft hervor und begann, sie so in das Bild zu kopieren, dass jenseits der Tischkante die Landschaft lag. Er begann ein neues Bild, in dem die Einrichtungsgegenstände der Gaststube alle auf einer Ebene lagen, Bierhähne, Tellerstapel, Espressomaschine, Garderobenhaken, Türklinken, Gebäude einer Industrieanlage, wirr geordnet, darin, mitten auf einer Straße sein Tisch mit dem Teegeschirr, dem Aschenbecher, dem welken Blumenstrauß. Er zeichnete gerade einen Bierglaskühlturm, als Anneliese zu der Tür hereinkam, die zu den Wohnräumen führte.

Anneliese begrüßte ihn freundlich und näherte sich, um zu sehen was er zeichne. Die Adlerwirtin hatte die Stube verlassen und sie waren allein. "Sie zeichnen auch andere Bilder als Akte", sagte sie und schaute erstaunt auf die Gaststättenlandschaft. Paschke sah sie lächelnd an. "Sicher", sagte er. "Aber Akte sind natürlich aufregender, als dies hier." Anneliese grinste obszön. "Haben sie eines der Bilder von mir bei sich? Ich möchte gerne eines haben." Paschke verneinte. "Schade", sagte sie, "ich würde gerne eines von meinen Bildern einmal einer Freundin zeigen. Ich habe ihr erzählt, dass ich Modell stehe und jetzt will sie einmal ein Bild sehen. Ich glaube, sie glaubt mir nicht. "Weiß Ihre Freundin auch warum Sie Modell stehen?" fragte Paschke nur. Anneliese war beleidigt. "Ich hab es ihr erzählt, ja, doch ich glaube, ich würde jetzt auch so damit weitermachen. Es ist lustig. Meine Freundin ist schon ganz neidisch auf mich. Ich glaube, sie würde sich auch gerne einmal nackig malen lassen." Paschke horchte auf. "Meinen Sie?" fragte er erstaunt. "Es ist nämlich sicher einfacher, es sich nur vorzustellen, aber wenn es dann tatsächlich geschehen soll ist es etwas ganz anderes." Anneliese dachte nach. "Ja, das stimmt wahrscheinlich. Weiß ich ja nicht, bei mir war es ja nun anders mit dem ersten Mal." - "Hätten Sie Lust auszuprobieren, ob ihre Freundin den Mut hat, sich wirklich nackt zeichnen zu lassen? Ich meine, sagen Sie ihr, ich wäre an einem weiteren Modell interessiert. Sie kann ja auch zu unserer nächsten Sitzung dazukommen und zuschauen, das heißt, wenn Sie das nicht stört." In Annelieses Augen stand Triumph. Genau das hatte sie erreichen wollen. "Also gut, beim nächsten Mal werd ich...," Die Adlerwirtin kam herein und unterbrach das Gespräch.

Zwei Tage später war eine Postkarte vom Buchhändler für Georg Paschke da. Der Galerist sei interessiert, Paschke möge doch einmal im Buchladen vorbeikommen oder anrufen. Da es bei Elli kein Telefon gab, ging Paschke in den Adler. Auf der Theke stand dort ein Telefon, das die Gäste benutzen konnten. Er rief den Buchhändler an. "Mein Bekannter möchte gerne noch mehr von Ihren Bildern sehen. Ich fahre am Dienstag wieder hin und könnte Sie mitnehmen." Paschke schwieg eine Weile. "Macht es Ihnen etwas aus, wenn Sie nur die Bilder mitnehmen? Ich glaube, ich will noch nicht wieder in die Stadt zurück. Es kommt ein bisschen plötzlich." - "Nein, natürlich nicht, wie Sie wollen. Ich komme Dienstag früh gegen neun bei Ihnen vorbei und hole die Bilder ab." - "Danke. Das macht es mir um vieles leichter, wissen Sie." - "Keine Ursache."

Über die Tage bis Dienstag beschäftigte sich Paschke damit, Bilder für den Galeristen zusammenzustellen. Er zeichnete nicht in diesen Tagen, denn er befürchtete, dann nicht unbefangen, sondern nur Hinblick auf die Chance in der Galerie zu zeichnen. Er wandte sich an Elli, wegen der Auswahl der Bilder. Elli suchte fünf Bilder heraus, die sie als zusammengehörig bezeichnete. Als Paschke fragte, was sie gemeinsam hätten, sagte Elli nur: "Sie sind alle sehr ernst." - "Gut", sagte er zufrieden, "dann sollen sie zusammen in einer Mappe mit."

Er gab dem Buchhändler im ganzen 23 Bilder mit. Dem Buchhändler stachen die letzten Zeichnungen von Anneliese mit den steinernen Wachskreidenschattierungen sofort ins Auge. "Da haben Sie meiner Meinung nach einen großen Sprung getan. Hier auch, bei den dunklen Selbststudien und den Kneipenbildern. Die sind besonders interessant, finde ich." Paschke bedankte sich und der Buchhändler fuhr ab. Paschke stand lange noch an der Straße und sah dem Wagen nach. Er dachte an die Bilder, die nun in die Stadt zurückkehrten die er verlassen hatte, und obwohl er in den letzten Wochen kaum mehr an den Grund seines Fortgehens gedacht hatte, kehrte seine Erinnerung jetzt wieder mit den abfahrenden Bildern zurück. Das Fleisch. Haut und Haar, Körper, der er war. Hier stand er an einer langweiligen Landstraße, die er täglich benützte, die von Ellis Haus, in dem er nun schon fast ein halbes Jahr wohnte, ins Dorfinnere führte, zum Adler, weiter zum Haus des Lehnerbauern und hinaus auf die Felder, zum Fluss, der in einen anderen Fluss mündete, der durch die Stadt floss, nahe an der Wohnung vorbei, die er bewohnt hatte, wo er, Fleisch an Fleisch, Körper an Körper, mit Anna gelegen hatte in einer dunklen Vergangenheit ohne Wind, ohne Wachsmalkreiden, ohne Elli. Furcht erfasste ihn und er wandte sich schnell ins Haus, wo ihm Elli eine weitere Tasse Tee anbot.

Die beiden Mädchen waren schon da, als er am alten Bahnhof ankam. "Das ist Helene", sagte Anneliese nur und begann sofort sich zu entkleiden. Paschke nickte nur. Er hatte dieses Mädchen noch nie gesehen. Sie wohnte in einem benachbarten Ort. Paschke war enttäuscht. Helene war eine Karikatur neben Anneliese. Sie war zierlich, trug eine starke Kassenbrille und einen hochgradig ländlich aussehenden Haarknoten. Ihre schmalen Hüften steckten in einem zu weiten Faltenrock, der über ihre Knie fiel. Unter ihm stachen zwei dürre Beinchen hervor, die in einer groben Wollstrumpfhose steckten. Sie war sehr aufgeregt, kicherte in einem fort und stolperte über allerlei Gegenstände und Trümmer alter Möbel. Paschke zeichnete einige schnelle Entwürfe von Anneliese, die ihre Freundin gar nicht mehr beachtete. Sie war ganz Hauptperson. Bei einer Rauchpause fragte Paschke Helene, ob sie sich auch malen lassen wolle. Sie kicherte verlegen und sagte: "Ich weiß nicht. Ich bin doch gar nicht schön. Aber meine Mutter hat gesagt, dass sie gerne Modell stehen würde. Sie sollten uns vielleicht einfach einmal besuchen. Nachmittags ist meine Mutter eigentlich immer zuhause und hat Zeit." Sie schrieb Paschke die Adresse auf. 
Anneliese erzählte ihm später, als Helene schon gegangen war, dass Helenes Mutter alleine lebte und dringend einen Mann suchte. Sie hatte in der Stadt gelebt und war nach der Scheidung mit Helene aufs Land gezogen. "Oh je", sagte Paschke nur.


XIV. Kapitel

Georg Paschke war beruhigt da er wusste, dass Anna nicht auf Vernissagen ging und sich überhaupt nicht für bildende Kunst interessierte. Es hatte ihn sehr berührt, wieder in die Stadt zu kommen, er war an seinem alten Wohnhaus vorbeigegangen, ohne stehen zu bleiben und zu sehen, ob sein Name noch am Klingelbrett stand, hatte die Frau an der Kasse des Lebensmittelgeschäfts durch die Scheibe wieder erkannt, Kaffee getrunken in einem Café, wo man ihn noch kannte. Doch jetzt war er ruhig. Nichts verband sein früheres Leben in der Stadt mit dieser Galerie, die ihm unbekannt war wie die Gesichter aller Anwesenden, den Buchhändler ausgenommen. Der Galerist hatte auf seine Bitte hin einen Einführungsvortrag für ihn gehalten, von dem er nichts verstanden hatte, er hatte den Vortrag auch nicht sonderlich aufmerksam verfolgt, sondern im Rund seine Bilder eins nach dem anderen lange angesehen, wie sie da hinter Glas, angestrahlt, hingen, merkwürdig klinisch an den weißen Wänden, hatte dankbar bemerkt, dass sich der Galerist an seine Wünsche gehalten hatte, was die Aufhängung zusammengehöriger Bilder betraf, ein Begleitheftchen war gedruckt worden, der Buchhändler hatte es organisiert, das als Deckblatt das düstere Bild zeigte, wie er nachts auf dem Fenstersims sitz und raucht, den Rücken gegen den Fensterrahmen gelehnt. Darunter stand: Georg Paschke, Akte und Landschaften.

Nach dem Ende des Vortrags gingen die wenigen Besucher von Bild zu Bild, man trank Sekt, man sprach über die Bilder. Paschke selbst wurde zunächst von niemandem angesprochen, worüber er sehr froh war. Dann näherte sich ihm der Buchhändler in Begleitung einer jungen Frau. Er stellte sie vor: "Darf ich Ihnen diese junge Dame vorstellen, Herr Pascke. Ihr Name ist Susanne Happel. Sie ist begeistert von Ihren Bildern. Sie zeichnet selbst. Als sie hörte, dass ich persönlich mit Ihnen bekannt bin, bat sie mich, sie Ihnen vorzustellen." - " Dann entschuldigte er sich und ging, um mit dem Galeristen zu reden. Paschke stand etwas verloren vor der jungen Frau. "So, Ihnen gefallen also die Bilder", sagte er ruhig. Susanne Happel lächelte still. "Ja." sagte sie nur. Sie schwiegen. Paschke fiel angenehm auf, dass es kein betretenes Schweigen war. Es gab einfach nichts zu sagen. Dann sagte er nach einer Weile: "Zeigen Sie mir Ihr Lieblingsbild." - "Ich habe keines", antwortete sie, "ich kann keines zum besten erklären. Ich mag die Art, wie Sie zeichnen. Das ist alles." Paschke war zufrieden mit der Antwort. Sie gingen nach draußen um eine zu rauchen. "Sie sind also aufs Land gegangen und haben dort angefangen so zu zeichnen. Das gefällt mir." Paschke nickte stumm und lächelte. "Man hat dort viel Zeit", sagte er nur. Sie gingen wieder hinein.
Zum Abschied sagte Susanne Happel: "Kann ich Sie auf dem Land einmal besuchen?" - "Ja" , sagte Paschke, "ich habe dort allerdings nur ein Zimmer und ich weiß nicht, ob es meiner Wirtin recht ist, wenn ich Besuch habe. Es gibt aber auch einen Gasthof mit Fremdenzimmern am Ort." Er gab ihr seine Adresse bei Elli Gutbrandt. Sie verabschiedeten sich. Der Galerist und der Buchhändler nahmen ihn noch in eine Kneipe mit, er trank viel, denn die Bekanntschaften der beiden wurde schnell gesprächsbestimmend. Der Buchhändler fuhr ihn spät in der Nacht nach Hause. Elli war längst schlafen gegangen, als sie ankamen.


XV. Kapitel

Helenes Mutter wohnte in einem alten Gehöft, das etwa zehn Minuten Fußmarsch außerhalb des Nachbardorfes in einem kleinen Seitental lag. Paschke hatte erwartet, eine pummelige Mittfünfzigerin beim Unkrautzupfen in ihrem Vorgarten anzutreffen, und war nicht schlecht überrascht, als ihm eine alte Dame öffnete, die sich bei Erkundigung nicht als die Gastgeberin selbst herausstellte, sondern als jemand, der über Paschkes Eintreffen wohl informiert war und ihn anwies, einen Moment in der Stube Platz zu nehmen, sie werde seine Ankunft melden. Damit verschwand die Alte in einem Flur und Paschke schaute sich in der Stube um.
Sie war mit alten Bauernstilmöbeln recht geschmackvoll eingerichtet, in einem schweren Regalschrank standen hinter großen Glastüren mit dezenten Jugendstilornamenten zumeist leinengebundene Bücher, auf dem schweren Eichenholztisch stand ein einfacher Krug mit Wiesenblumen auf einem Stickdeckchen, es gab einen offenen Kamin und daneben einen alten, braun furnierten Heimfügel. Die Reproduktion eines Soutine Bildes hing über dem Kamin, und an einer anderen Wand fand er eines seiner eigenen Lieblingsbilder, einen van Steen.
Helenes Mutter empfing Paschke schließlich auf einer kleinen Veranda, von der aus man auf einen weidenumstandenen Ententeich blickte. Sie stellte sich ihm als Amélie Thièrs vor, eine zierliche Person in einem tiefschwarzen Samtkleid, über dessen Kragen sie einen mattblauen Umhang gelegt hielt. Ihr Gesicht war fein geschnitten und sehr weiß, doch ihre Lippen waren voll und von einem sanften Rot. Ihre bernsteinernen Augen waren groß und ruhig. Sehr im Kontrast zu den Dörflern der Gegend sprach sie ein einwandfreies Hochdeutsch und verhielt sich höflich distanziert. Paschke wusste sofort, dass er es mit einer gebildeten, ungemein wohlhabenden Dame zu tun hatte und war einigermaßen verwirrt. Frau Thièrs bemerkte seine Unsicherheit und sprach ihn darauf an: "Ich bitte Sie, fühlen Sie sich nicht befremdet vom Stil meines Hauses, Herr Paschke. Wissen Sie, mein geschiedener Mann ist ein sehr erfolgreicher Kaufmann und musste sich doch mit einem recht großen Teil seines beinahe obszönen Vermögens von mir loskaufen. Es kommt also nicht etwa von mir, was Sie hier sehen. Es ist alles, oder war, sein Geld. Ich wollte es eben hübsch haben, hier draußen in dieser ländlichen Abgeschiedenheit, in die ich mich diskreterweise zurückgezogen habe." Sie lächelte fröhlich, doch ihre Augen blieben gefasst auf Paschke gerichtet. Sie sagte: "Meine Tochter erzählte mir eines Tages, dass in unserem Nachbardorf, wo sie eine Freundin hat, auch ein Mann wohnt, der diese Freundin nackt zeichnet. Sie können sich vorstellen, dass das hier draußen eine ziemliche Sensation ist, die einen aufmerken lässt. Nun habe ich bei einem Buchhändler, den ich von Zeit zu Zeit aufsuche, sogar einen kleinen Katalog von Ihnen gefunden. Und da mir Ihre Bilder gefallen, wollte ich Sie einmal kennen lernen." - "Ihre Tochter sprach davon, dass Sie Modell stehen wollten", sagte Paschke vorsichtig belustigt. Frau Thièrs ging darauf überhaupt nicht ein. "Sehen Sie, ich dachte ich möchte eines Ihrer Bilder besitzen. Sind denn die Bilder aus dem Katalog käuflich, beziehungsweise, noch käuflich?" Paschke zuckte mit den Schultern. "Ich habe zur Zeit eine Verkaufsausstellung in der Stadt. Ich weiß selbst nicht, ob eines der Bilder bereits verkauft ist und welches das wäre. Haben Sie sich denn bereits für eines entschieden?" Amélie Thièrs blickte zum See hinunter. "Ich möchte dann doch lieber warten, bis Sie mir Ihre Bilder selbst vorstellen können. Es wäre mir sehr unlieb, eines auszusuchen, das ich gar nicht mehr erwerben kann." Paschke reichte ihr eine Karte. "Das ist die Adresse der Galerie, in der die Ausstellung stattfindet." Amélie nahm die Karte nicht. Sie sagte: "Vielen Dank, ich brauche sie nicht. Ich habe ja Ihren Katalog, oder soll ich sagen, dieses Heftchen, erstanden, dort ist die Adresse der Galerie auch vermerkt." Paschke bemerkte seinen Fehler. Er sagte: "Wir könnten, falls Sie das wünschen in die Stadt fahren und eines für sie aussuchen." - "Wann würde es Ihnen passen?" fragte Amélie Thièrs. "Jederzeit. Wir können noch heute nachmittag hinfahren, wenn Sie möchten."

Amélie Thièrs fuhr einen englischen Sportwagen aus den Fünfziger Jahren. Georg Paschke kam sich wie ein dummer Schuljunge vor, der zum ersten Mal auf dem Beifahrersitz mitfahren darf. Sie sprachen während der Fahrt über das Land und die Vorteile, sich hier niederzulassen. Amélie kannte sich gut in der Stadt aus und fand die Galerie ohne Paschkes Hilfe. Dem Galeristen war sie bekannt, er begrüßte sie mit Namen. Sie ging still durch die Räume und stellte keine Fragen zu den Bildern. Paschke setzte sich im Vorraum an den Tisch des Galeristen, der ihm einen Kaffee anbot. "Sie haben gute Verbindungen, gratuliere", sagte der Galerist. "Woher kennen Sie Frau Thièrs?" - "Oh, Sie kennen die Dame. Nun, sie ist eine Nachbarin. Ist sie eine Kundin von Ihnen?" - "Nun ja, nicht direkt, sie hat vor Jahren öfter einmal ein Bild bei mir gekauft, ich kenne sie eher von Ausstellungseröffnungen. Ihr Mann, von dem sie allerdings kürzlich geschieden wurde, ist steinreich. Sie muss eine ansehnliche Kunstsammlung haben, wenn sie sie nicht bei der Scheidung ihrem Mann überlassen musste. Ich kenne die näheren Umstände der Trennung nicht. Aber sie hat seitdem keine Bilder mehr gekauft."
Amélie Thièrs kam aus den Ausstellungsräumen und bedeutete, dass sie wieder aufs Land zurückfahren wollte. Beim Gehen legte sie dem Galeristen einen Umschlag auf den Tisch, so, dass es Paschke nicht sehen konnte.
Auf der Rückfahrt äußerte sie sich überhaupt nicht zu der Ausstellung sondern sagte nur knapp: "Falls Sie wünschen mich eines Tages zu malen, Herr Paschke, seien Sie so gut und bewahren Sie absolute Diskretion darüber. Und dulden Sie es in Zukunft nicht mehr, dass meine Tochter ihren Sitzungen mit dieser Anneliese beiwohnt. Ich erinnere Sie daran, dass sie noch nicht volljährig ist und ich in keinster Weise mein Einverständnis gebe! Diese Anneliese ist ohnehin kein Umgang für sie."


XVI. Kapitel

Georg Paschke nahm in den nächsten Tagen keinen Kontakt mehr zu Amélie Thièrs auf. Die Art, wie sie die Teilnahme ihrer Tochter an den Sitzungen mit Anneliese verboten hatten, ließen ihn wie einen Mädchengrabscher aussehen.
Er saß viel mit Elli im Garten und zeichnete sie. Elli begann, sich an Paschkes Anwesenheit mit dem Zeichenblock zu gewöhnen, wie man sich an einen Photographen gewöhnt, der auf einer Party umherläuft und dessen Photoapparat man irgendwann nicht mehr wahrnimmt. Paschke skizzierte Ellis Bewegungen beim Aufhängen von Wäsche, wie sie die Brombeerhecke schnitt, wie sie Gras mit einer alten Sense mähte. Die Skizzen verarbeitete er nachts in seinem Zimmer weiter, meist nur beim Licht von drei Kerzen, die er im Zimmer verteilt aufgestellt hatte. Auf den so entstehenden Bildern war immer nur Ellis Körper zu sehen, die Hintergründe hatte Paschke fortgelassen. Elli, wie sie sich reckte, wie sie den Oberkörper verdrehte und nach hinten griff. Ein sehr bewegtes Bild, eines mit der Sense, die Elli eben ausgeschwungen hatte, hatte ihn ergriffen. Ellis Gesicht ließ er leer, ihr offenes Haar wehte schwarz, ihre Hände und Unterarme wirkten wie harte Greifarme aus Stahl, die mit gegerbter Haut überzogen waren. Der Stahl der Sense leuchtete hell aus dem Graugrün des Hintergrunds heraus. Die Gestalt, die da mähte, stand auf keinem Boden. Sie bewegte sich im Leeren.
Allmählich entstand eine ganze Serie mit Bildern einer Frauengestalt in Bewegungen. Elli wusste nicht, dass Paschke die Skizzen von ihr, die er ihr abends immer zeigte, nachts weiterbearbeitete. Auf ihre Bitte musste ihr Paschke eine Skizze schenken, die sie bei der Apfelernte zeigte. Es ärgerte ihn, dass diese Skizze so für ihn verloren war, doch er zahlte diesen Preis für Ellis Diskretion, was die anderen Skizzen anging.
Eines Abends, als er den Gasthof Adler betrat, saß dort die junge Frau, die er flüchtig auf seiner Ausstellung kennen gelernt hatte. Er setzte sich zu ihr. Susanne Happel war am Nachmittag mit dem Bus gekommen und hatte sich im Adler eingemietet. Sie sagte, sie wolle ein paar Tage, vielleicht eine Woche bleiben und bat Paschke, einen Gesamtkatalog seiner bisherigen Bilder und Zeichnungen anfertigen zu dürfen.
In den nächsten Tagen kam Susanne Happel in Elli Gutbrandts Haus und Paschke half ihr, seine Bilder in den Garten zu bringen, die Susanne Happel dann photographierte. Sie machte sich kurze Notizen zum Entstehungsdatum und Paschkes kurzen Erläuterungen. Die Serie von Elli Gutbrandt erstaunte Susanne Happel zutiefst. "Sie werden immer abstrakter und gleichzeitig immer düsterer", sagte sie nachdenklich.
Paschke lernte Susanne Happel nach einigen Tagen sehr gut leiden und auch Elli war froh um die freundliche, stille Besucherin ihres Gastes und Mitbewohners. Eines Abends saßen die drei lange im Garten und tranken Wein und redeten leis. Elli verabschiedete sich ins Bett und Georg Paschke und Susanne Happel saßen schweigend am Tisch unter einem Baum. "Bist du nicht müde?" fragte Paschke nach einer Weile. Susanne Happel sah ihm still in die Augen. "Ja", sagte sie, "ich bin müde. Doch ich möchte noch nicht fort. Ich habe jetzt alle deine Bilder photographiert und werde bald zurückfahren, um einen Katalog zu machen. Wir haben uns bis jetzt nur sozusagen geschäftlich ausgetauscht. Ich würde aber gerne noch mehr von dir persönlich zu deinen Bildern erfahren." Paschke lud Susanne Happel ein, mit ihm auf sein Zimmer zu kommen, wo er ja nachts immer arbeitete. "Komm mit und sieh dir mein kleines Landatelier selbst an, wenn ich dir damit nicht zu nahe trete", sagte er, "es fällt mir sicher leichter, in der mir zu dieser Stunde vertrauten Umgebung über meine Bilder zu reden." Sie gingen nach oben und Georg Paschke zündete seine Kerzen an. Er breitete einige Bilder der Elli Serie auf dem Boden aus und sagte: "Komm ans Fenster, Susanne. Man muss die Nacht draußen dazu hören." Susanne Happel setzte sich aufs Fensterbrett und schaute nach draußen. "Bitte bleib so" , sagte er plötzlich und griff sich seinen Zeichenblock. Susanne sah ihm leuchtend in die Augen. "Willst du mich etwa zeichnen?" - "Stört es dich?" - "Ganz im Gegenteil, ich glaube es wird mir sehr gefallen. Willst du mich nackt zeichnen?" Er nickte. Susanne schlüpfte aus ihren Kleidern. "Es ist ziemlich kühl hier am Fenster." Sie lächelte gequält. Paschke öffnete seinen Schrank und reichte ihr seinen alten Trenchcoat. "Zieh den Mantel über, dann wird es gehn."
Susanne setzte sich aufs Fensterbrett, schaute in die Nacht hinaus und rauchte, während Paschke sie zeichnete. Draußen waren Käuzchen zu hören und ab und zu der Schrei eines gejagten Kleintieres. Paschke und Susanne Happel schwiegen. Als Paschke einige Skizzen beendet hatte sprachen sie. "Du lebst sehr zurückgezogen hier draußen", sagte Susanne, "warum hast du mit deinem Vorleben so krass abgeschlossen?" Anna. Plötzlich war sie im Raum und Paschke konnte sie nicht ignorieren. Sein Gesicht wurde steinern. Löste sich wieder, als er Susanne ansah, die ihn interessiert musterte. "Brauchst du Stoff für den Begleittext deines Katalogs?" fragte er. Susanne ließ sich vom Fensterbrett herunter und kauerte sich vor ihn auf den Teppich. "Das ist kein berufliches Interesse, mein Lieber. Mir gefallen deine Bilder und ich will mehr über dich wissen, okay?" sagte sie. "Du gefällst mir.
Als ich dich in der Galerie gesehen habe konnte ich mir nicht vorstellen, dass du der Landkünstler sein sollst, als den dich der Galerist einmal bezeichnet hat. Du bist äußerlich ruhig und freundlich, und doch bist du geduckt, nicht unterwürfig geduckt, es ist eher eine im Zaum gehaltene Kraft, eine Wut. Deine Bilder zeigen dieselbe Anspannung, die sich in weichen Bewegungen und Formen verbirgt. Aber sie strömen eine Kraft aus, eine dunkle, schöne Kraft." - "Einen Hass schon eher, meinst du nicht?" entgegnete Paschke. Susanne blickte ihn ungläubig an. "Einen Hass?" Paschke spürte Annas spöttischen Blick aus der Zimmerecke, dann schien ihm, als gehe sie einfach weg. Er blickte rasch zu ihr hinüber, doch sie war schon weg. "Ein Hass, der mich immerhin schöne Bilder zeichnen lässt, nicht war? Das ist doch gut, nicht? Warum sollte ich ihn zerstören?" Paschke klang jetzt sehr bitter. "Das habe ich nicht vor", sagte Susanne beruhigend. "Nun", beharrte Paschke, "du kannst auch sagen, dass ich durch Vorkommnisse auf einige Fragen gestoßen wurde, denen ich mit meiner Malerei nachzugehen versuche." - "Aber zunächst haben dich diese Vorkommnisse von deinem Vorleben getrennt, nicht wahr?" - "Was willst du mir sagen?" fragte Paschke ruhig. Susanne lehnte sich zu ihm vor. "Ich frage mich nur, warum du so weit draußen und so weit weg von allem sein musst. Ich hätte dich lieber näher in meiner Umgebung." Paschke sah sie an. "Ich bin hier in deiner Umgebung, liebe Susanne und gar nicht weit weg." 
Anna war fort. Paschke betrachtete still Susannes Lippen. Er küsste sie. Er nahm die Kerzen, um sie zu löschen. "Oder magst du erst die Skizzen ansehen?" fragte er. Susanne schüttelte leicht den Kopf, ohne den Blick aus seinen Augen zu nehmen.

Paschke erwachte am nächsten Morgen vom hellen Licht, das durch sein Fenster schien. Susanne war fort. Er stand auf und sah durch sein Fenster auf die Landschaft. Sie erschien ihm plötzlich sehr einsam. Er war in Susannes Armen eingeschlafen. Er erinnerte sich an die Wärme ihrer Haut. An ihr Atmen, auf das er fast gierig gelauscht hatte, ausgebrannt nach Vertrautheit und Nähe. Jetzt war Susanne wohl schon abgereist.
Er ging nach unten. Elli war nicht zu Hause. Er machte sich einen Kaffee, hob die Post auf, die der Bote durch die Tür gesteckt hatte. Ein Umschlag für ihn war dabei. Der Absender war in einer schönen Handschrift gehalten: Amélie Thièrs. Er öffnete den Umschlag. Amélie Thièrs lud ihn am kommenden Samstag Nachmittag und Abend, wie sie schrieb, auf ihr Landgut zu einem Gespräch ein. Eine Karte seines Galeristen war auch dabei, die gute Verkaufserfolge andeutete und ihn um Rückruf baldmöglichst bat. Paschke machte sich zum Telefonieren in den Adler auf.
Vor der Tür traf er Elli und Susanne, die spazieren gewesen waren. "Guten Morgen, bist du auch erwacht", flötete Susanne und küsste ihn auf die Wange. Elli lächelte ihn nur an und schüttelte den Kopf. "Hast du etwas dagegen, wenn ich dich im Adler zu einem Frühstück einlade?" fragte Susanne. "Nein", sagte Paschke, ich müsste sowieso dorthin. Mein Galerist will angerufen werden." Sie verabschiedeten sich von Elli.

Im Adler bestellten sie bei Annelieses Mutter ein Frühstück. Paschke ging zum Telefon und rief den Galeristen an. "Paschke hier, guten Morgen. Was gibts denn?" - "Oh, Paschke, hallo", kam es zurück. "Mein Glückwunsch. Bis auf drei Bilder haben wir alles verkauft, stellen Sie sich vor! Bei einer Erstausstellung hab ich das noch nicht erlebt. Auch fast alle Kataloge sind weg. Sie haben also auch nach Abzug meiner Provision noch gut verdient, warten Sie mal, ich denke es bewegt sich so bei etwa 20 000 Mark. Ich bräuchte von Ihnen eine Kontonummer, um das Geld zu überweisen." Paschke schluckte. Er gab seine Bankverbindung durch. "Könnten Sie die unverkauften Bilder fürs erste für mich verwahren", bat er, "ich komme möglicherweise die nächste Zeit nicht in die Stadt." - "Ich wollte Sie ohnehin bitten, diese Bilder bei mir in der Galerie zu lassen", sagte der Galerist. "Bestens", sagte Paschke gutgelaunt, "ich freue mich. Auf Wiederhören."
Er ging zu Susanne an den Tisch zurück. Susanne streckte ihm den Umschlag mit Amélie Thièrs' Einladung entgegen und zog die Augenbrauen hoch: "Amélie Thièrs schickt dir höchstpersönlich Post?" fragte sie bedeutend. "Du kennst sie?" fragte er. "Ich weiß, wer sie ist", antwortete Susanne. "Es erstaunt mich um so mehr, dass du sie kennst, beziehungsweise, dass sie dich kennt und dir handschriftlich Post zukommen lässt." - "So, ist das so erstaunlich? Ich kenne sie nämlich erst ganz kurz und auch nicht gut und weiß fast nichts über sie. Wer ist sie?" - "Sie ist steinreich, kauft jede Menge Bilder und hat eine ansehnliche Sammlung. In Kunstkreisen ist sie ziemlich bekannt. Woher kennst du sie?" - "Sie ist eine Nachbarin, sozusagen, wohnt im nächsten Dorf. Sie hat mich schon einmal eingeladen, als sie erfuhr, dass im Dorf nebenan einer malt. Ist ja hier draußen schon ein weltbewegendes Ereignis." - "Sie wohnt jetzt hier draußen? Ich wusste nur, dass sie seit etwa einem Jahr geschieden ist und bei der Scheidung von ihrem Mann einen erheblichen Teil seines Vermögens erhalten hat, ich wusste allerdings nicht, wo sie abgeblieben ist." - "Sie hat ein Landgut gekauft, da hab ich mal Tee mit ihr getrunken." - "Glückspilz", sagte Susanne. "Halt dich mal an die. Das ist das halbe Almosen, mein Lieber." - "Sie war auf meiner Ausstellung, ich weiß allerdings nicht, ob sie etwas gekauft hat. Sie schien aber ziemlich interessiert an meinen Sachen." - "Oho", sagte Susanne. "Und was will sie jetzt von dir?" - "Sie lädt mich Samstag auf ihre Bude." Susanne pfiff durch die Zähne. "Und mir haben sie erzählt, du wärst ein völliger Newcomer. Alle Achtung!" - "Ach, lassen wir das Thema, ich bin nur ein linkischer Freizeitkleckser mit mehr Glück als Verstand. Schau mal: ich habe keine Ahnung vom Malen, hatte es nicht einmal vor, bevor ich hier rauskam, dann sieht ein Provinzbuchhändler meine Bilder und hat natürlich einen Kumpel mit Galerie. Und dort laufe ich gleich dir über den Weg, auch nicht übel." - "Bist du denn froh über unsere Nacht?" fragte Susanne eher schüchtern. "Ja, sehr", sagte Paschke.
Sie frühstückten schweigend weiter. Dann sagte Susanne: "Die holde Anneliese hab ich jetzt gar nicht gesehen, obwohl ich vier Nächte hier war. Oder drei." - "Wann fährst du denn wieder zurück?" - "Um zehn Uhr zwanzig geht mein Bus. Lass uns noch kurz übers Geschäft reden. Also, ich schreibe einen Katalog über deine Bilder, die von der Ausstellung hab ich alle fotografiert und jetzt auch die Zeichnungen von Elli bei dir. Ich brauche mindestens noch drei Wochen, bevor ich fertig bin und ihn in Druck geben kann. Falls du in der Zwischenzeit noch etwas malst, was du gerne im Katalog hättest, ruf mich an, damit ich es fotografieren kann. Ich nehme so etwa 30 Bilder in den Katalog auf." - "Wer bezahlt eigentlich den Druck? Und wer bezahlt überhaupt dich?" - "Ich mach es erst mal aus Interesse und der Galerist finanziert 100 Kataloge. Er vertreibt sie dann auch, das heißt, du kriegst von jedem verkauften Katalog etwa 5 Mark und ich bekomme auch 5 Mark." - "Das sind gerade mal 500 Mark für dich im besten Fall!" sagte Paschke entrüstet. Und wovon lebst du?" - "Mach dir keine Gedanken, ich komm schon hin." - "Lass mich wenigstens deine Zeche hier im Adler bezahlen und deine Fahrkarten. Ich habe jetzt Geld. Es sind fast alle Bilder und Kataloge verkauft worden, sagt Galeristeneddi." - "Wie bitte? Wahnsinn, das ist ja irre!" sagte Susanne. "Das ist ja wunderbar. Siehst du, du bist ein Glückskind." - "Ach so, richtig." - "Und noch was", begann Susanne, "ich wär gerne deine Agentin, falls du eine haben willst. Und falls nicht Frau Thièrs dich gleich am Stück kauft am Samstag." Paschke lachte laut. "Wenn die mich kaufen will, dann natürlich nur über meine Agentin. O.K. Susanne, manage mich, wenn dir das gefällt. Brauchen wir dann einen Vertrag und all so was?" - "Ich denke schon. Wann kommst du mich besuchen, dann können wir das alles in Ruhe regeln." - "Ich in die Stadt, oh je, na ja, mal sehen, wenn ich eine Mitfahrgelegenheit finde", sagte Paschke.


XVII. Kapitel

Elli Gutbrandt war ganz traurig über Susanne Happels Abreise. Sie hatte die junge, hübsche Frau gerne gemocht. Sie war freundlich zu ihr gewesen, wie selten Menschen, die sie nicht kannte und erst recht viel freundlicher als Menschen, die sie kannte, von Georg Paschke und ihrem Buchhändler einmal abgesehen. Dass Susanne Happel bei Georg Paschke übernachtet hatte stellte Elli vor keine Fragen. Die junge Frau war eben auch Malerin und die beiden hatten ja, so hatte ihr Susanne erzählt, noch die halbe Nacht über Paschkes Bildern zugebracht. Dass sonst noch etwas in dieser Nacht hätte passieren können, daran dachte Elli mit keinem Gedanken. Sie schrieb Susanne Happel eine Ansichtskarte, die sie im Adler erworben hatte und die den Gasthof Adler in Holzstetten zeigte.

Georg Paschke war in den Tagen nach Susannes Abreise viel draußen gewesen, hatte lange Spaziergänge unternommen und lange an seinen Lieblingsplätzen um das Dorf zugebracht. Erst am dritten Tag hatte er wieder seinen Zeichenblock mitgenommen. Er zeichnete das Dorf von einem Hügel aus. Das Dorf lag aber schräg im Bild, Paschke zeichnete nur die Gebäude, sie hingen schräg im Nichts, ein Spiralnebel. Er lief nach Hause, füllte die Zwischenräume zwischen den Häusern mit schwarzer Tusche und ließ nur weiße Linien frei, die den Umriss seines Fensters darstellten. Die Linien schnitten mitten durch das Dorf. Als die Tusche trocken war, begann er auf das Schwarz einzelne Hügelrücken zu malen, eine Tischkante, hinter der ein Bierhahn aus dem Adler erkennbar war, in eine Ecke übertrug er einen Ausschnitt von der Zeichnung von der nackten Susanne Happel in seinem Trenchcoat, eine Partie ihres Halses mit den Haaren und der Kragen des Mantels, ein Ausschnitt, der zufällig genau die Form des Dorfes im Nichts nachzeichnete. Als er mit dem Bild fertig war, war es bereits vier Uhr früh. Er löschte die Kerzen und setzte sich in sein Fenster, um zu rauchen. Dann schlief er bis Mittag und ging hinunter, um Elli zu sagen, dass er zu Frau Thièrs ins Nachbardorf zu Fuß gehen würde.

Er klingelte an der Tür und Hélène machte ihm auf. Er zuckte regelrecht zusammen, denn die Helene die ihm öffnete hatte nicht viel Ähnlichkeit mit der, die ihm beim Zeichnen von Anneliese zugesehen hatte. Sie trug keine Kassenbrille, sondern anscheinend Kontaktlinsen. Ihr unattraktiver Haarknoten war geöffnet und wunderschönes, schwarzes Haar fiel über ihre Schultern und über ein hübsches Sommerkleid. "Helene", sagte er nur erstaunt. Sie lächelte. "Hélène, bitte", sagte sie vornehm, "Anneliese kann es nicht französisch aussprechen, ich ziehe es aber vor. Auch wenn ich mit Anneliese eben nur Helene bin." Paschke war verblüfft. Hélène war hier auf dem Landgut ihrer Mutter nicht das kichernde, schüchterne Etwas. Sie sprach ruhig und selbstsicher. Sie bat ihn herein. "Meine Mutter ist noch nicht fertig. Möchten Sie einen Kaffee oder einen Aperitif vielleicht?" Paschke bat um den Kaffee und Hélène rief nach der Alten, um ihn bei ihr zu ordern. Für sich bestellte sie einen Mokka. Paschke sah nach den Bildern hin und trat auf den Soutine zu. Er hatte es bei seinem ersten Besuch nicht beachtet, aber es war kein Druck. Es war gemalt. "Ein Original?", fragte er wie beiläufig. "Ich denke schon", sagte Hélène. "Maman gibt sich nicht mit Kopien zufrieden." Paschke glaubte ihr nicht. Niemand hängt ein Original im Empfangszimmer eines Landguts ungeschützt an eine Wand.

Amélie Thièrs erschien und bat die beiden auf die Terrasse. "Guten Tag, Herr Paschke", sagte sie freundlich, "ich hoffe wir stehlen Ihnen nicht Ihre Zeit." - "Es ist mir ja ein Vergnügen, Madame Thièrs", sagte er. Frau Thièrs lächelte bei seinem: `Madame'. Sie sind sehr charmant, Herr Paschke", sagte sie, "wissen Sie, ich stamme aus Genf und weiß es zu schätzen, wenn ich daran erinnert werde. Meinen Mann habe ich wohl auch zu einem gut Teil nur wegen seines Namens geheiratet und führe diesen Namen weiter, schon Hélènes wegen. Ich möchte nicht, dass sie anders heißt als ihre Mutter. Doch erzählen Sie, war denn Ihre erste Ausstellung nun ein Erfolg für Sie?" - "Oh ja", sagte Paschke, "beinahe alle Bilder wurden anscheinend verkauft." - "Sehen Sie", antwortete Amélie Thièrs. "Für mich kam es schon überraschend", sagte Paschke. "Wissen Sie, ich kenne den Kunstmarkt nicht und könnte nie einschätzen, auf was er reagiert und auf was nicht. Sie scheinen sich da aber besser auszukennen, nicht wahr?" - "In der Tat", sagte Amélie Thièrs. "Wissen Sie wer Ihre Bilder angekauft hat?"
Paschke blickte von ihren Augen fort. "Nein, Madame, ich habe mich noch nicht erkundigt." - "Das sollten Sie aber tun, denn Sie wollen ja sicher noch weitere Bilder verkaufen und dann ist es sicherlich hilfreich zu wissen, welcher Sammler Interesse haben könnte. Ich habe zum Beispiel sieben Ihrer Bilder erstanden." Paschke sah auf. "Madame, sind sie denn sicher, dass das meine Bilder wert sind?" Amélie Thièrs hob nur leicht eine Schulter und lächelte milde. "Sie wollen doch mit der Malerei weitermachen, oder?" - "Ja. Natürlich. Ich bin weiterhin bei der Produktion. Es tut mir leid, dass ich keine Bilder mitgebracht habe, aber ich bin von Holzstetten zu Fuß gekommen." - "Was sind die Motive Ihrer aktuellen Bilder, zeichnen Sie noch diese Anneliese?" Amélie Thièrs schickte einen stechenden Blick zu Hélène hinüber. "Ich zeichne sie nicht mehr", sagte Paschke. "Das muss einmal ein Ende haben. "Hélène sah ihn mit feurigem Blick an und lächelte tief." - "Dann geben Sie es also auf, ein Landmaler zu sein und wenden sich jetzt seriöseren Themen zu?", sagte sie spöttisch. "Hélène, bitte!" sagte Amélie Thièrs. "Lass uns jetzt bitte allein." Hélène verabschiedete sich.
"Ihre Tochter ist bemerkenswert", sagte Paschke, "sie spielt bei Anneliese scheinbar die Naive und ist doch eine ziemlich hintertriebene kleine Person." - "Oh ja", sagte Frau Thièrs, "das ist sie wirklich. Sie hat sogar einen diabolischen Zug manchmal. Sie benützt Menschen für ihre Ziele. Schon in ihrem zarten Alter. Ich müsste Sie im Grunde vor ihr warnen. Sie wird Ihnen allerhand dummes Zeug erzählen, warten Sie es nur ab. Sie essen doch heute Abend mit uns, nicht wahr?" - "Wenn Sie es wünschen, gerne", sagte Paschke. "Schön, dann haben wir ja viel Zeit, über Ihre Kunst zu reden." - "Da gibt es nicht viel zu sagen, Madame", sagte Paschke, "ich male ohne mir Gedanken über die Theorie zu machen." - "Was schlagen Sie dann vor? Ich meine, wie könnte ich mich Ihrer Malerei noch nähern?" Paschke war in eine Sackgasse gedrängt. Amélie Thièrs fuhr fort: "Ich möchte Ihnen nun nicht etwa wie meine Tochter dabei zusehen, wie sie dieses Wirtshauskind malen." Paschke sah ihr fest in die Augen. "Ich male das, was ich für notwendig empfinde, und ich male es, wannimmer ich es für notwendig empfinde, Madame. Und ich male schon gar nicht für Zuschauer." - "Verzeihen Sie, Herr Paschke, es war unfein von mir, Sie auf diese Anneliese anzusprechen. Wenn ich Sie bei der Arbeit sehen wollte, könnte ich Sie ja bitten, einmal mich selbst zu portraitieren." - "Ich weiß nicht, ob ich das so auf Antrag einfach könnte. Ich glaube ich kann nur malen, wenn der Augenblick stimmt." - "Und die Augenblicke bei dieser Anneliese stimmten, wenn ich fragen darf?" - "Ja, sie stimmten. Ihre Tochter hat Sie sicher informiert, wie es zu diesen Sitzungen kam, nicht?" Amélie Thièrs nickte. "Sehen Sie, der Betrug an einer Betrügerin, die ausweglose Situation einer Erpressung, die Hässlichkeit Annelieses und des Bauern, all das hat zu einer Situation geführt, die man nicht planen kann, das ist wie ein Geschenk, ein heimliches, gefährliches Geschenk. Ein Voyeurismus, wenn Sie so wollen." - "Und Ihre anderen Bilder?" - "Es ist etwas Grundverschiedenes, wenn man allein ist, sich selbst zeichnet oder eine Landschaft, das verstehen Sie sicher. Und die Zeichnungen von meiner Wirtin sind eher Studien, wobei mir ihre freundliche Naivität, ja Unschuld, sehr entgegenkommt. Ich habe über die letzte Woche eine ganze Serie von Bewegungsstudien von ihr gezeichnet, dafür werde ich ihr ewig dankbar sein. Es ist leicht, sie zu zeichnen. Sie verbindet nichts Hintergründiges damit, nichts, was ich nicht wissen könnte. Sie ist wirklich die Frau vom Lande, die einer malt. Das ist gar nicht so selbstverständlich heutzutage, wo jeder gleich glaubt, zur Kunst etwas sagen können zu müssen." - "Sie zeichnen auch Ihre Wirtin?", fragte Amélie Thièrs groß. "Ich zeichne Skizzen von ihr, keine Akte. Die Dame wusste bis vor kurzem nicht einmal, dass ich mich mit Akten beschäftige. Sie war ziemlich konsterniert, als sie erfuhr, dass ich Akte male. Sie ist, wenn ich das so ausdrücken darf, eine recht unverdorbene, einfache Person. Sie wohnt allein in Holzstetten und meines Wissens hat sie immer allein gelebt. Sie lebt von etwas Heimarbeit und jetzt auch von meiner Miete."
Amélie Thièrs schwieg. Sie hatte deutlich herausgehört, dass Paschke eine warme Sympathie für seine Wirtin empfand. "Unter welchen Umständen sind Sie eigentlich nach Holzstetten gekommen?", fragte sie nur.
Paschke sah auf den Ententeich hinaus. "Ich wollte fort aus meinem bisherigen Leben. Ich fuhr nach Holzstetten weil es mich an `Brett vor dem Kopf' erinnerte. Ich stieg aus dem Bus und nahm im ersten Haus ein Zimmer, das Fremdenzimmer anbot. Es war Frau Gutbrandts Haus, wo ich noch heute wohne. Sie hat mir einen anständigen Monatspreis gemacht, sie vermietete das Zimmer zuvor immer nur tageweise. Sie lässt mich in Frieden und ich mache ihr so wenig Unannehmlichkeiten wie ich kann. Am Anfang war mir nicht klar, was ich eigentlich wollte. Mein Geld hätte etwa für ein halbes Jahr gereicht. Ich habe mich nicht arbeitslos gemeldet. Ich begann zu malen. Jetzt bin ich immer noch hier, das halbe Jahr ist um und ich habe eben genug Geld verdient, um noch einmal ein halbes Jahr in Holzstetten bleiben zu können. Das will ich wohl auch tun." Amélie Thièrs sah ihn an. "Haben Sie denn genug Platz im Haus Ihrer Wirtin? Ich meine, für Ihre Malerei. Ich könnte Ihnen anbieten, sich in einem der Nebenbauten meines Guts ein Atelier einzurichten, wenn Ihnen das helfen würde." - "Das ist ein recht großzügiges Angebot, Madame Thièrs, doch ich befürchte, ich habe nicht genügend finanzielle Reserven, um die Monatsmiete für ein Atelier aufzubringen." - "Ich könnte es Ihnen zu einem, sagen wir: symbolischen Preis überlassen. Ich hätte ja auch meine Vorteile davon, wenn Sie hier auf dem Gut arbeiten würden. Das Leben hier draußen ist langweilig genug und auf Hélène hätte die Anwesenheit eines erwachsenen Mannes sicher auch einen guten Einfluss." - "Sie haben mich eben noch vor ihrer Tochter gewarnt, Madame. " - "Überdenken Sie es in Ruhe, Herr Paschke, es ist ja nur ein Gedanke. Ich würde mich jedenfalls freuen, Ihnen ein Atelier zur Verfügung stellen zu können." - "Ich werd es mir durch den Kopf gehen lassen, Madame. Sehen Sie, ich weiß gar nicht, ob ich in einem speziell dafür eingerichteten Raum überhaupt malen könnte. Ich sprach vorher von der Situation, die stimmen muss. Ein Atelier ist ja wie eine Werkstatt, wie ein Büro, eine Kanzlei. Ein Arbeitsplatz. Mein Verhältnis zu meinem Malen ist noch ein anderes, als das zu einer Arbeit. Ich danke Ihnen jedoch sehr für das Angebot."
Sie erhoben sich und gingen in das Speisezimmer. Es war für drei Personen gedeckt. Hélène kam dazu. "Ich hoffe, meine Mutter hat Sie angenehm unterhalten, Herr Paschke. Sie tendiert leider dazu, etwas zu offensiv mit Besuchern umzugehen, nicht wahr, Maman? Aber wissen Sie, das kommt vom vielen Alleinsein in dieser idyllischen, ländlichen Abgeschiedenheit." Frau Thièrs wollte etwas sagen, doch Paschke kam ihr zuvor. "Vermissen Sie denn die Großstadt, Fräulein Thièrs?", fragte er provozierend. "Sagen Sie ruhig Hélène zu mir und duzen Sie mich. Meine Mutter hält mich sowieso noch für ein Kind" - "Wie möchten Sie denn angesprochen werden?", fragte Paschke. "Als Hélène, Monsieur. Die bin ich. Wenn Sie darauf bestehen, sagen Sie doch: `Sie, Hélène'. Aber bitte nicht Fräulein. Das klingt ja nach Mittelalter." - "Dann werde ich Sie so anreden, Hélène", sagte Paschke. "Und wie gefällt Ihnen meine Mutter als Gesprächspartnerin?" Amélie Thièrs fuhr dazwischen. "Jetzt ist es genug, Hélène." Paschke lächelte in sich hinein. Auf Hélène hätte die Anwesenheit eines erwachsenen Mannes sicher auch einen guten Einfluss, dachte er. "Maman will mich die Bilder, die sie von Ihnen gekauft hat nicht sehen lassen. Vielleicht sind Sie so offenherzig und sagen mir, ob ein Akt von Anneliese dabei ist." Paschke zuckte mit den Schultern. "Ich weiß nicht einmal, welche Bilder Ihre Mutter gekauft hat, doch ich möchte schon bezweifeln, dass eines von Ihrer Freundin dabei ist." - "Finden Sie denn, dass an Anneliese etwas schön ist?", fragte Hélène. "Ein Maler malt nicht nur, was er schön findet, Hélène. Das klingt ja nach Mittelalter", gab Paschke zurück. Hélène warf ihm einen bösen Blick zu. Frau Thièrs lachte. "Sie würden aber auch schöne Frauen nackt malen, oder?", setzte Hélène nach. "Wenn sich die Gelegenheit bietet, sicher...", sagte Paschke. "Würden Sie mich malen?", fragte Hélène mit einem spitzen Blick zu ihrer Mutter. "Meinen Sie denn, Sie sind eine schöne Frau, Hélène?", fragte Paschke. Hélène geriet leicht aus der Fassung. Sie errötete sogar. Offensichtlich hatte sie nur ihre Mutter ärgern wollen und hatte nicht mit einem Angriff gerechnet. Jetzt stellte sie sich trotzig. "Würden Sie mich malen?" Paschke lächelte ihr ins Gesicht. "Meine Liebe, ich habe es Ihrer Mutter bereits erläutert, ich male, wenn ich den Moment dazu für gekommen halte. Ich kann nicht grundsätzlich sagen, ob oder wann das der Fall sein wird. Und ihre Mutter hat mir im Grunde untersagt, Sie als Akt zu malen, und ich fühle mich dem Wusch Ihrer Mutter verpflichtet." - "Und wenn es Ihnen nun Annelieses Mutter untersagen würde?" Paschke erschrak. War Anneliese auch noch minderjährig?" Er wusste es nicht. Das kleine Luder hätte ihn dann ganz in ihrer Hand. Er blieb äußerlich ruhig. "Ich glaube nicht, dass Anneliese geholfen wäre, wenn ihre Mutter die ganze Wahrheit über ihre Tochter erführe, oder was glauben Sie, Hélène." Hélène lächelte ihm nur frech ins Gesicht. "Tja, die Anneliese", sagte sie kopfschüttelnd. "Kann ich etwas für ihren schiefen Lebenswandel?" Also doch Erpressung, dachte Paschke. Er beschloss, mit offenen Karten zu spielen. "Was ich Sie fragen möchte, Hélène: Ihre Mutter hat mir die Einrichtung eines Ateliers hier auf dem Hof angeboten. Was würden Sie denn davon halten, glauben Sie ich sollte dieses Angebot Ihrer Mutter annehmen?" Amélie und Hélène Thièrs blickten ihn gleichermaßen groß an. "Alle Achtung, Maman", sagte Hélène langsam. "Gleich ins Schwarze." Frau Thièrs errötete leicht. "Sie hat ein loses Mundwerk, ich sagte es Ihnen", sagte sie. "Sie ist aber durchaus liebenswert damit", sagte Paschke, "stellen Sie sich vor, Sie hätten eine phlegmatische, etwas dümmliche Tochter, und das hier draußen auf dem Lande!"

Nach dem Essen nahm man noch Kaffee. Danach machte sich Paschke an den Aufbruch. "Sie sind doch zu Fuß gekommen", sagte Hélène. "Mutter, kann ich Herrn Paschke nach Hause fahren?" - "Wenn es Herrn Paschke nichts ausmacht von einer so ungeübten Fahrerin gefahren zu werden." - "Ich nehme an, Sie haben bereits einige Übung, Hélène", sagte Paschke. Frau Thièrs seufzte. "Nun gut, nimm den Sportwagen. Ich bedanke mich für Ihren Besuch, Herr Paschke. Lassen Sie mich wissen, wenn Sie das Angebot mit dem Atelier annehmen wollen. Oder kommen Sie einfach einmal zu einem Besuch vorbei, Sie sind immer gerne gesehen." 
Paschke verabschiedete sich und ging mit Hélène zum Wagen.

Sie waren gerade einige Meter aus dem Tor gefahren, als Hélène sagte: "Sie werden mich malen, George." Sie sprach seinen Namen französisch aus. "Meine Mutter wird es nicht erfahren und auch sonst niemand. Die Bilder werde ich bekommen, damit Sie keine Dummheiten mit ihnen machen können." - "Und woher weiß ich, dass Sie keine Dummheiten mit ihnen machen?" - "Das brauchen Sie nicht zu wissen. Anneliese wird erst im Oktober 18, das muss Ihnen genügen." Paschke schwieg. Sie hat mich vor ihr gewarnt, dachte er.


XVIII. Kapitel

Die nächsten Tage vergingen ruhig. Paschke stellte die Serie der Bewegungsstudien mit Elli fertig. Er schrieb Susanne. Den Abend bei den Thièrs beschrieb er nur vage. Er fuhr in die Kleinstadt und versicherte sich bei der Filiale seiner Bank, dass das Geld vom Galeristen gekommen war. 22 700 Mark. Er hob etwas Geld ab, kaufte Materialien, die er nach Holzstetten liefern ließ. Er ging im Buchladen vorbei und besuchte den Buchhändler.
Abends ging er in den Adler und nahm seinen Zeichenblock mit. Er setzte sich in die hinterste Ecke und zeichnete die Wirtschaftsräume. An einem der Abende bediente Anneliese. Sie setzte sich kurz zu ihm und wollte eine neue Sitzung vereinbaren, doch Paschke wich aus. Er habe zur Zeit zuviel zu tun. "Solange dauert das doch gar nicht, oder?", sagte Anneliese, "und wenn Sie wollen, machen wir es uns danach noch gemütlich." Paschke starrte sie an. "Mit dem Lehnerbauern ist es aus", sagte Anneliese bestimmt. Paschke war völlig fassungslos. "Nein, vielen Dank, das möchte ich nicht." Anneliese legte ihre fette Hand auf die Innenseite seines Oberschenkels. "Nur nicht so schüchtern, Herr Maler. Ich machs gut, glauben Sie mir." Paschke nahm ihre Hand fort. "Sie täuschen sich in mir, Anneliese, wenn Sie denken dass ich mich mit Minderjährigen einlasse. Wie alt sind Sie eigentlich?" Anneliese war entrüstet. "Ich werde noch diesen Oktober Zwanzig" - "Soso, soll ich das jetzt umständehalber einfach glauben?" Anneliese war beleidigt. Sie ging fort vom Tisch, kam wieder und knallte ihm ihren Ausweis hin. Geboren am 12.Oktober 1986. Paschke pfiff durch die Zähne. "Also das ist eine Sitzung wert.", sagte er. Anneliese begriff nur soviel, dass sie wieder gemalt werden würde. "Gut", sagte sie. "Heute nach meinem Dienst. Bleiben Sie einfach sitzen. Meine Eltern gehen früh schlafen und wir bleiben einfach in der Gaststätte."
Als Anneliese die Wirtschaft schloss, blieb Paschke sitzen. Anneliese löschte alle Lichter bis auf eine Lampe auf Paschkes Tisch. Sie ließ die Rollläden herunter. Dann kam sie an den Tisch und entkleidete sich. Sie setzte sich auf den Tisch neben Paschkes Bier. Paschke begann, sie zu zeichnen. Das halb geleerte Bierglas, Anneliese, die ihre prallen Beine übereinander geschlagen hatte, ihr verdrehter Bauch, der den Nabel verzog. Nach einer Weile hatte Anneliese genug und beugte sich zu ihm vor. Ihre fetten Brüste hingen vor seinem Gesicht. "Na, wollen wir noch etwas hübsches anderes machen?", fragte sie rauchig. Paschke stand auf. "Ich werde lieber gehen, Anneliese, schlafen Sie gut." Er ging zur Tür, schloss auf und war hinaus. "Kannst wohl nicht", tönte es hinter ihm her.

Als er vor Ellis Haus ankam sah er den Sportwagen an der Straße stehen. Hélène saß drin. Paschke ging zu ihr hin. Sie kurbelte das Fenster herunter und sagte: "Steigen Sie ein, George!" Sie fuhr einige Kilometer bis die Straße in einen Wald führte. Paschke wollte sie eben auf die Lüge von Annelieses Minderjährigkeit ansprechen, da bog sie auf einen Forstweg ab und fuhr ihn einige Meter hinein. "Hier steigen wir aus", sagte sie. Sie ließ das Standlicht des Wagens an und stellte sich in seinen matten Lichtschein. Sie zog ihr Kleid über den Kopf und stand in Schlüpfern vor ihm. Paschke sah sie staunend an. Sie war schön, unglaublich schön. Ihr Körper war von einem Ebenmaß, das sehr selten ist. Paschke zitterte. Er wusste nicht, ob er von Hélènes Schönheit so nervös war oder mehr davon, dass er die Situation nicht selbst herbeigeführt hatte. Er hatte das Gefühl, etwas zu Gesicht zu bekommen, was ihm eigentlich nicht zustand. Er fühlte sich als alter Bock, der eine wunderschöne junge Frau zu sehen bekam, die sich ihm, einem fremden, zudem gewöhnlichen Mann ohne besondere Vorzüge, nie hätte zeigen dürfen. "Sie können beginnen", sagte sie. Er nahm seinen Zeichenblock und skizzierte. Er wusste, dass er sie nicht zeichnen durfte, es wäre zu gefährlich. Er zeichnete alles um ihren Körper herum, so dass ihr Körper auf dem Bild nichts als eine Auslassung war. Die Haube des Wagens, die Bäume hinter ihr. Die weiße Fläche, die ihr angewinkeltes Bein auf dem Kühler des Wagens ausließ. Vor dem Gestrüpp eines Busches die weiße Fläche, die die weiche Form ihrer Brust einnahm. Der klare Bogen ihres Rückens, der in einem perfekten Übergang in ihren Po auslief. Er zeichnete fünf Bögen voll aus verschiedenen Winkeln. Dann senkte er den Block. Hélène zog ihr Kleid über und verlangte den Block zu sehen. Er zeigte ihr die Bögen. Sie kniff die Augen zusammen. Ein Zorn lief über ihr Gesicht. "Das finden Sie jetzt wohl besonders originell", sagte sie leis. „Ich werde die Zeichnungen behalten", sagte Paschke. "Sie sagten, Sie würden die Bilder behalten, die ich von Ihnen male. Sie sind nicht auf den Bildern. Als Einziges sind gerade Sie nicht auf den Bildern." Sie sah ihn an. "Sie sind in der Tat eine sehr schöne Frau, Hélène", sagte er warm. Hélène sagte nichts. Sie stieg wütend neben Paschke in den Wagen und fuhr ihn schweigend zu Ellis Haus. Sie hielt an und sah nicht zu ihm herüber. Paschke nahm eines der Blätter und reichte es ihr hinüber. "Für Sie, Hélène, als Erinnerung." Sie nahm das Blatt, ohne es anzusehen. Sie blickte ihm in die Augen. Plötzlich beugte sie sich zu ihm und küsste ihn auf den Mund. Sie hielt seinen Kopf fest, so dass er nicht zurückweichen konnte. Paschke war auch viel zu sehr überrumpelt, als dass er an Gegenwehr gedacht hätte. Er fühlte ihre Hände an seinem Hinterkopf, ihre Lippen auf seinen, ihre Zunge, die in seinen Mund eindrang. Er roch ihre duftende Gesichtshaut. Plötzlich ließ sie ihn los. "Steigen Sie jetzt aus, George!" sagte sie kühl. Paschke verließ den Wagen grußlos und ging ins Haus, ohne sich noch einmal umzusehen. Er war bereits in seinem Zimmer, als er Hélène den Motor wieder anlassen hörte. Dann entfernte sich der Wagen rasch.

Er stellte sich in seinem Zimmer vor den Spiegel. Er trug seinen Trenchcoat. War er gutaussehend? Er lachte über den Gedanken. Er dachte an Susanne, die diesen Mantel über ihrer Nacktheit getragen hatte. Er dachte an Hélène. Er legte die Bögen vor sich aus, die er von ihr gezeichnet hatte. Er skizzierte sein Bild im Spiegel, mit dem Trenchcoat, er malte es aus, dunkel, verdrecktes Grün, verdrecktes Grau, knallrot seine Lippen, leuchtendbraun seine Augen. Sein Zimmer im Spiegel, sein Fenster im Spiegel, offen, dunkel. Wie ein Abschied, dachte er, aus diesem Zimmer. Oder eine Rückkehr, nach langer Abwesenheit. Am nächsten Morgen frühstückte er mit Elli Gutbrandt. Er sagte, er wolle in die Stadt fahren. Vielleicht für eine Woche. Er nahm eine Mappe mit allen seinen Bildern mit und bestieg den Vormittagsbus.


XIX. Kapitel

Susanne Happel wohnte in einem Altbau im vierten Stock. Paschke stieg hinauf und klingelte. Susanne öffnete. "Georg, was für eine schöne Überraschung! Hast du neue Bilder mitgebracht?" Sie sah auf die Mappe. Paschke stellte die Mappe ab. "Ich zeig sie dir gleich. Lass uns einen Kaffee trinken." Sie setzten sich in Susannes Küche. Paschke sah sich um. "Schön hast du es hier. Einfach. Was machst du, störe ich dich bei etwas?" - "Es ist lustig, gerade habe ich mit Druckereien telefoniert, wegen der Kostenvoranschläge für den Katalog. Hast du noch Bilder für den Katalog mitgebracht?" - "Ich weiß nicht, das solltest vielleicht du entscheiden. Es ist dein Katalog. Und außerdem bist du meine Agentin." - "Was treibt dich in die Stadt?", fragte Susanne. "Du", sagte Paschke leis, "ich musste dich einfach sehen. Auf dem Lande spielen sie die Jagdszenen nach einem Maler mit mir. Merkwürdige Dinge sind mir passiert. Die Tochter von Amélie Thièrs hat es auf mich abgesehen. Sie ist siebzehn! Und ein kleines intrigantes Luder. Sie wollte mich damit erpressen, dass Anneliese noch nicht volljährig ist und damit rausrücken, dass ich sie nackt gemalt habe." - "Erpressen zu was?" - "Sie will von mir gemalt werden, was ihre Mutter mir aber ausdrücklich verboten hat." - "Gibt es denn Ärger, wenn das mit Anneliese herauskommt?" - "Nein, sie wird demnächst zwanzig, das kleine Luder hat mich angelogen. Es ist aber noch etwas komisches passiert: sie hat mich nach Hause gefahren und mich im Auto plötzlich geküsst." - "Was? Amélie Thièrs!?" - "Nein, ihre Tochter." - "Ach so, die fährt auch schon. Ist wohl verschossen in dich." - "Ich weiß nicht, ich habe eher den Eindruck, dass sie es aus Geltungssucht tut. Will sich mit mir schmücken. Oder sich an mir ausprobieren in Ermangelung gleichaltriger Männer, die sie für voll nehmen würde. Sie steht meilenweit über den Dorftrotteln dort. Auch Anneliese, mit der sie ab und zu herumzieht, scheint sie im Grunde zu verachten. Sie hat sich sicher nur an sie gehängt wegen des Verhältnisses zum Lehnerbauern, das beeindruckt Hélène vielleicht in seiner Verruchtheit. Dass sie sich an mich heranmacht, geschieht doch auch nur, weil dort auf dem Lande niemand Interessantes herumläuft. Sie will damit wahrscheinlich auch ihrer Mutter eins auswischen." - "Ist die denn auch an dir interessiert?" Paschke lachte. "Das glaub ich nun weniger. Vielleicht interessiert es sie, einen Maler im Gefolge zu haben, sie hat mir angeboten, auf ihrem Landsitz ein Atelier einzurichten. Aber wohl alles eher aus Langeweile. Sie hat sieben von meinen Bildern gekauft, ist das nicht verrückt?" - "Na ja, dann scheint sie aber schon ein gewisses Interesse an dir oder wenigstens an deinen Bildern zu hegen. Sie kauft selten mehr als ein Bild von einer Ausstellung. Wie ist sie denn so privat?" - "Eine vornehme Frau, na ja, was heißt das, man spürt das Geld, die Gewohnheit, Macht zu haben. Ich hatte den Eindruck, dass die beiden eine Art Konkurrenz bei mir austragen, Mutter und Tochter." - "Vergiss nicht, dass junge Frauen ihre Gefühle sehr ernst nehmen, lieber Georg. Du weißt, dass diese Hélène dich nur aus Geltungssucht im Visier hat, aber für sie selbst mag eine Menge damit zusammenhängen. Vielleicht beschäftigst du ihre Fantasie." - "Du lieber Gott! Das Angebot mit dem Atelier wird da ja beinah eine Einladung in die Irrenanstalt." - "Es klingt aber interessant. Meinst du, du könntest dort arbeiten und die beiden trotzdem etwas auf Distanz halten? Amélie Thièrs wäre ein erstklassiger Mäzen für dich." - "Das weiß ich noch nicht. Ich befürchte eher, dass ich in die Schusslinie zwischen den beiden geraten könnte." - "Du könntest sie auch gegeneinander ausspielen, das könnte sich auszahlen, besonders wenn die Mutter den Charme ihrer Tochter mit Begünstigungen wett machen muss." - "Ein Spiel auf dem Rand der Klippe, warum nicht. Aber nur, wenn du mir versprichst, mich ab und zu dort herauszuholen, Susanne." - "Als deine Agentin, jederzeit." - "Und als Freundin, würde ich mir wünschen." Susanne küsste ihn vorsichtig. "Nun aber zu deinen Bildern", sagte sie.

Am nächsten Vormittag ging Paschke zu seiner ehemaligen Wohnung. Er klingelte beim Hausmeister, der ihm mitteilte, dass seine Wohnung von der Hausverwaltung versiegelt worden war, da er die Miete nicht mehr überwiesen hatte. Er fuhr zum Büro der Verwaltung und regelte die Angelegenheit. Er kaufte einige Nahrungsmittel und begab sich in seine Wohnung. Von dort rief er seinen alten Arbeitgeber an, die Personalverwaltung. Na, das ist aber eine Überraschung! Herr Paschke. Wir hatten uns erkundigt, Sie waren polizeilich weder abgemeldet, noch in einem Krankenhaus eingeliefert. Wir haben Ihnen eine Kündigung geschickt. Haben Sie die denn erhalten?"
- "Ich habe meinen Briefkasten noch nicht geleert. Brauchen Sie noch irgendetwas von mir?" - "Sie müssten uns die Kündigung unterschrieben zurücksenden, damit wir Ihnen Ihre restlichen Urlaubstage anteilig ausbezahlen können. Falls sie mit der Kündigung nicht einverstanden sind, müssten Sie das schriftlich erklären, allerdings ist die Frist dazu längst abgelaufen." - "Nein, ist schon o.k. mit der Kündigung. Ich schick Sie Ihnen noch heute unterschrieben zurück." - "Das Konto ist noch das gleiche, wie in unseren Unterlagen?" - "Es ist etwas mehr drauf, das ist der einzige Unterschied." - "Na herzlichen Glückwunsch!", sagte der Herr vom Personaldienst freundlich.

Paschke rief den Galleristen an. "Herr Edmund, hier ist Paschke. Sagen Sie, können Sie mir eine Liste der Kunden schicken, die meine Bilder gekauft haben und aus der hervorgeht, welcher Kunde welches Bild gekauft hat?" - "Herr Paschke, hallo. Natürlich kann ich das. Frau Happel wollte so eine Liste bereits von mir haben, sie sagt, sie sei Ihre Agentin, ist das richtig? Ich wollte ihr die Liste nicht nur so auf Hörensagen schicken, so etwas ist nämlich eine äußerst vertrauliche Angelegenheit." - "Ja natürlich, verstehe, aber Frau Happel ist wirklich meine Agentin. Oder vielmehr im Begriff, es zu werden, deshalb sind sie noch nicht von mir informiert. Schicken Sie die Liste ruhig an meine Adresse in Holzstetten, ich leite sie dann an Frau Happel weiter." - "Gut, mach ich. Ich hab übrigens eines der drei Bilder, die Sie bei mir gelassen haben auch verkauft. Haben Sie vielleicht noch ein paar Bilder für mich, sagen wir vielleicht zwei oder drei. Ich würde sie gern in mein Fenster hängen, wenn Sie erlauben." - "Ich habe Bilder bei mir, ja. Ich werde bei Gelegenheit vorbeikommen. Wann passt es Ihnen denn?" - "Sagen wir morgen Vormittag, so ab zehn Uhr." - "Gut, bis dann, Tschüß."

Dann ging Georg Paschke in seinem alten Stadtteil spazieren. Er war mit einem kleinen Skizzenblock unterwegs, setzte sich auf dem Platz vor der Markthalle und zeichnete einige der Menschen, die auf den Bänken saßen. Eine leichte Brise ging. Eine milde Herbstsonne lag auf den Gesichtern und zeichnete sie warm goldbraun. Er schaute über den Platz. Ein friedliches Treiben erfüllte ihn und Paschke merkte, wie wohl er sich hier fühlte, mitten drin zu sitzen und schauen zu können, keinem fiel auf, dass er zeichnete, keiner sprach ihn an, außer einem Obdachlosen, der ihn freundlich um eine Zigarette bat. Paschke gab ihm Feuer. "Danke und schönen Tag noch", sagte der junge Mann. Wie lange er das nicht mehr gehört hatte! Er lachte über seine kleine Sentimentalität.
Abends ging er mit Susanne essen. "Hab den Edmund heut angerufen. Er hat noch ein Bild verkauft und bittet mich um ein paar Bilder, die er in seinem Fenster aufhängen will. Er hat dir die Liste der Kunden nicht geschickt, er wollte es von mir hören, dass du mein Agent bist." - "Die Galeristen nehmen es sehr wichtig mit der Diskretion. Davon leben sie." - "Du meinst also nicht, dass es ihm nicht passt, dass du meine Agentin bist?" - "Oh nein, er ist nur vorsichtig. Das ist normal. Ralf Edmund ist ja sogar ein alter Freund von mir. Nur deshalb war ich ja auf deiner Ausstellung." - "Das ist gut. Ich seh ja nur noch überall Intrige und Nachstellung, seit ich die Thièrsens kenne. Morgen fahr ich zu deinem Ralf und bring ihm ein paar Bilder. Er wollte zwei oder drei. Welche sollen wir denn nehmen, was meinst du?" Susanne überlegte. "Die Bewegungsstudien sollten als Serie zusammenbleiben. Bring ihm vielleicht die Nichtbilder von Hélène Thièrs. Oder zwei davon und das Bierglasbild, das zeigt die Richtung mit den Environments." - "Und das Bild vor dem Spiegel?" - "Das ist zu gut für eine Schaufensterauslage, mein Lieber. Dafür müsste er uns schon eine zweite Ausstellung machen." - "Meinst du?" - "Ja, dieses Bild hat etwas. Es ist fast diabolisch. So anwesend, offensiv, und doch auch ruhig. Ich möchte es auf dem Titelbild des Katalogs haben." - "Aha. Nun, mir gefällt es auch. Vielleicht will ich es selbst noch eine Weile haben. Behalt es vielleicht fürs erste in deiner Wohnung." - "Wir sollten es auf alle Fälle nicht unter 5000 Mark abgeben. Eher 7000." - "Oh guter Gott, bin ich froh, dass ich mir darüber keinen Kopf zu machen brauche", sagte Paschke. "Übrigens hat es mir heute in meinem alten Stadtteil sehr gefallen. Ich könnte mich an die Idee gewöhnen, wieder hierher zu ziehen. Zumindest für einige Tage der Woche, oder zwei Wochen im Monat." - "Ich würde mich freuen", sagte Susanne.

Am nächsten Vormittag brachte Paschke das Bierglasbild und drei der Nichtbilder von Hélène zu Ralf Edmund. Edmund war sehr beeindruckt. "Also dieses Bild auf der Tischkante mit dem Glas ist eine hervorragende Weiterentwicklung des Bildes mit den Zapfhähnen. Das habe ich für 8000 Mark losgeschlagen, weil sich zwei Kunden darum gerissen haben. Ich könnte dem, der leer ausging dieses Bild hier sicher für 9000 Mark verkaufen, noch ist das alles ja nicht lange her, und dieses Bild hier ist das bessere. Und die Bilder mit den Umrissen der zierlichen jungen Frau, die hätte ich gern alle drei und würde versuchen, sie zusammen zu verkaufen. Als Tryptichon. Tryptichon einer Elfe, würde ich sie nennen. Ich würde sie auf Sperrholz ziehen lassen, die mit Scharnieren verbunden sind. Damit sie aussehen, wie uralte Ikonen aus einer orthodoxen Kirche. Dürfte ich das?" - "Wenn Sie denken, dass das gefällt." - "Ich denke schon. Tryptichons gibt es wenige und es fällt sicher auf. Sehen Sie." Ralf Edmund legte die drei Bilder von Hélène nebeneinander. " In dieser Anordnung." Paschke machte ein anerkennendes Geräusch. "Das habe ich selbst so gar nicht gesehen, Herr Edmund." - "Wird Susanne diese Bilder in den Katalog aufnehmen?" - "Oh, das weiß ich nicht. Sie hat völlig freie Hand und ich hab mir ihre Entwürfe noch nicht angesehen. Ich höre, Sie finanzieren 100 Stück der Kataloge, ich möchte mich dafür noch bedanken." - "Ach lassen Sie, Paschke, seit Ihrer Ausstellung hab ich so viel Kunden im Laden gehabt, wie lange nicht mehr. Sie helfen mir auch aus der Patsche. Haben Sie denn genug weitere Bilder für eine neue Ausstellung?" - "Noch nicht, ich hoffe in ein, zwei Wochen..." Ralf Edmund sah Paschke kopfschüttelnd an. - "Ihnen wäre das wohl in der Tat zuzutrauen. Susanne Happel hat mir gegenüber schon angedeutet, dass Sie wahnsinnig schnell arbeiten. Fast unvorstellbar, bei der Qualität Ihrer Bilder. Doch ein, zwei Wochen, das wäre noch etwas zu früh, denke ich. Man darf den Markt nicht überschwemmen. Deshalb machen wir ja den Katalog. Der wird die Kunden bei der Stange halten. Wenn sich der Katalog so ein bis zwei Monate gesetzt hat, können wir eine Ausstellungsankündigung loslassen." - "Bis dahin fülle ich Ihnen eine Bahnhofshalle, wenn Sie wollen", lachte Paschke.
Ralf Edmund gab Paschke die Liste der Kunden für Susanne mit. Susanne studierte eines Abends die Liste, während Paschke sie zeichnete. "Mein Gott, sieh mal", sagte Susanne plötzlich gedehnt, "Amélie Thièrs hat ausschließlich Selbstportraits als Akt von dir gekauft. Beinah alle, die du je gezeichnet hast. Wie findest du das?" Paschke ließ den Zeichenblock sinken. "Ich trau mich langsam gar nicht mehr dorthin. Ich käme mir ja wie entkleidet vor, wenn ich dort so beim Tee sitze. Aber sie muss doch wissen, dass ich erfahren werde, dass sie die Bilder gekauft hat." - "Vielleicht wollte sie ja genau das, mein Lieber." - "Oh je. Jetzt weiß ich, warum sie ihre Tochter die Bilder nie sehen ließ." - "Nun ja, vielleicht ist es auch wirklich nur Interesse an der Kunst. Amélie Thièrs hat einen recht ausgeprägten Geschmack. Und deine Akte sind ja auch herausragend unter deinen Bildern. Du hast mich mal gefragt, was meine Lieblingsbilder sind und ich habe sehr vage darauf geantwortet, weil ich dich noch nicht kannte. Es waren aber eben die Akte." - "Gut, dass du es mir damals nicht gesagt hast", sagte Paschke, "ich hätte es wirklich falsch verstanden. Ich war sehr in mich zurückgezogen in dieser Zeit."

Paschke verbrachte noch einige Tage in seiner Wohnung und in seinem Stadtteil. Er zeichnete viel, darunter mehrere Akte und Studien von Susanne. Er wollte sie nach Holzstetten mitnehmen, um sie in Öl zu malen. Er fuhr an einem sonnigen Spätherbsttag dorthin zurück. Elli freute sich wahnsinnig über seine Rückkehr. Sie machte eine Riesenauswahl aller Kuchen, von denen sie das Rezept wusste. Staunend stand Paschke am nächsten Tag vor dem Küchentisch, auf dem sie ausgebreitet waren. "Die Konditorei Gutbrandt auf der Herbstausstellung deutscher Konditoren mit der goldenen Preismünze ausgezeichnet", sagte er. Elli strahlte.


XX. Kapitel

Das Dorf Holzstetten gehörte der Gemeinde Gromberg an. Paschke fuhr nach Gromberg und suchte die Gemeindeverwaltung auf. Er erkundigte sich nach dem alten Bahnhofsgebäude in Holzstetten. Die Bahnlinie war Anfang der siebziger Jahre stillgelegt worden, Trasse und Immobilien waren Gemeinden überschrieben. Paschke fragte sich bis zum Gemeindevorstand durch und erkundigte sich, ob einer Nutzung des Bahngebäudes zu Holzstetten durch eine Privatperson gegen eine angemessene Miete etwas im Wege stehe.
"Einer privaten Nutzung? Welcher Art denn?", fragte der Beamte. "Sehen Sie", sagte Paschke, "ich bin Maler. Ich wohne seit einem halben Jahr in Holzstetten. Meine Wohnverhältnisse sind etwas zu beengt für meine Malerei." - "So. Und Sie wollen den alten Bahnhof als Werkstätte nutzen." - "Nun ja, ich bin in der Tat auf der Suche nach einem größeren Raum als Atelier. Ich wollte mich nur einmal erkundigen, ob es überhaupt die Möglichkeit gäbe, das verfallende Bahnhofsgebäude als Atelier zu nutzen. Ich bin nicht eben ein Krösus. Ich könnte wohl keinerlei bauliche Veränderungen finanzieren." - "Nun gut. Spielen wir es einmal durch: Sie bräuchten Wasser, Strom, müssten die Türen und Zugänge erneuern, damit man absperren kann, das Gerümpel abfahren lassen et cetera." Paschke lächelte. "Sehen Sie, alles das bräuchte von meiner Seite aus gar nicht zu sein. Sie dürfen nicht etwa denken, dass ich ein vollverglastes, lichtdurchflutetes Komfortstudio mit Klimaanlage und Gästesauna suche. Ich habe mir dieses Bahnhofsgebäude bereits angesehen. Das Dach ist noch dicht, das Gerümpel könne ich in einem Raum zusammenschmeißen. Ich bräuchte nur die Eingänge zu verschließen und vielleicht die Fenster zu machen. Ich will dort ja nicht wohnen, nur arbeiten." - "Das Gebäude ist sicher auch nicht heizbar, denken Sie daran." - "Ich würde es ja auch erst einmal nur den Sommer über nutzen wollen", sagte Paschke. Der Gemeindevorsteher überlegte eine Weile. Dann sagte er: "Also, Herr Paschke, wenn Sie dieses Gebäude nutzen wollen, dann formulieren Sie doch bitte ein schriftliches Gesuch an die Gemeindeverwaltung. Von meiner Seite steht der Sache im Prinzip nichts entgegen. Unterhalten Sie sich doch noch mit unserem Herrn Bowolter, gleich im Zimmer nebenan. Der verwaltet die Grundstücke und Immobilien der Gemeinde. Er müsste einen Miet- oder Nutzervertrag mit Ihnen abschließen." Paschke bedankte sich und suchte Bowolter auf. 
"Das alte Bahnhofsgebäude in Holzstetten?", sagte der. "Das Gebäude ist seit fast zehn Jahren unbenutzt. Die Sache ist, dass wir hier so etwas noch nie gemacht haben. Ich müsste erst mal die juristische Seite für einen solchen Nutzervertrag klären. Schreiben Sie uns doch bitte und erklären Sie, was Sie sich so vorstellen, auch in Bezug auf die Höhe der Miete." - "Ich hoffe, dass die bei dem Zustand des Gebäudes eher symbolischen Wert haben dürfte, eher wie die Nutzungsgebühr für eine Ruine", sagte Paschke.

Er fuhr zurück nach Holzstetten und ging gleich zum alten Bahnhof. Er ging um das Gebäude herum. Der Haupteingang war ein schweres Holzportal mit zwei Flügeln. Es war verschlossen. Vom Bahnsteig her gab es zwei Türen, die ebenfalls verschlossen waren. An der Gebäudeseite hatte sich ein Kiosk befunden. Dort gab es die morsche Tür, die sich öffnen ließ. Paschke betrat das Innere des Bahnhofs. Er sah sich um. Hier hatte er Anneliese zum ersten Mal gezeichnet. Die Zigarettenkippen lagen noch herum. Trübes Licht fiel durch die verschmierten Fenster, an deren Fensterrahmen nur noch gezackte Reste von der Verglasung hingen. Man hörte den Wind. Er sah nach oben ins Dachgebälk. Das Dach war tatsächlich noch in Ordnung, soweit er sehen konnte und auf einem Balken lag ein schon lange nicht mehr bewohntes Vogelnest. Paschke setzte sich auf eine alte Holzbank für Wartende. Er mochte das morbide, staubige Licht im Inneren des Gebäudes. Das Gerümpel, das den Boden bedeckte war weniger, als er gedacht hatte. Er ging durch einen Tür in den Kioskraum, in dem nur noch ein alter Kanonenofen stand. Doch heizbar, dachte er. Die Wasserhähne im Kioskraum waren natürlich taub. Eine gemauerte Theke erstreckte sich unter dem Ausgabefenster, das mit einem Holzverschlag verschlossen war von Wand zu Wand. Hier könnte er seine Farben, Stifte und Pinsel auslegen. Er lachte. Nicht zu viel planen, dachte er, verließ das Gelände des Bahnhofs und ging zu Ellis Haus. Beim Mittagessen erzählte er ihr von seinem Plan, den Bahnhof als Atelier zu benutzen.

Den Nachmittag verbrachte er damit, seine Skizzen und noch nicht fertig gestellten Zeichnungen zu prüfen. Er sortierte jene aus, die ihm als Vorlage für ein Bild in Öl geeignet schienen. Er dachte sich keine Kriterien aus, sondern folgte einfach seinem Instinkt. Er hatte keinerlei Konzept, wie er in Öl malen wollte. Er bedauerte, dass er so viele seiner Bilder nicht mehr besaß. Er studierte den Katalog von Egon Schiele. Er dachte an den Vermeer, den er im Landhaus von Amélie Thièrs gesehen hatte. Er musste ihn sehen.
Er stieg auf sein Fahrrad und radelte ins Nachbardorf. Als er am Landhaus ankam, stand Amélie Thièrs gerade im Hof und goss die Rosensträucher. "Verzeihen Sie die Störung", sagte er, "ich hoffe, ich komme nicht allzu ungelegen. Ich hatte bei Ihnen einen Soutine und einen Vermeer hängen sehen und würde die Bilder gerne etwas studieren." - "Aber gerne, Herr Paschke. Kommen Sie mit herein", entgegnete Amélie freundlich. Sie traten in die Stube, wo die Bilder hingen. "Ich werde uns einen Kaffee machen", sagte Amélie und verschwand in der Küche.
Paschke trat vor den Vermeer. Herr und Dame beim Wein. Er prägte sich das Bild genau ein. Dann trat er vor den Soutine. Nein, dachte er, soweit sind wir noch lange nicht. Amélie kam herein. "Möchten Sie den Kaffee hier trinken?" - "Könnten wir auf die Terrasse sitzen?" fragte er zurück. "Ich habe genug gesehen." - "Das ging aber schnell!" 
Sie gingen auf die Terrasse. Amélie ging mit einem Tablett vor Paschke her. Es kam ihm ein Gedanke. Er setzte sich. "Ich trage mich mit dem Gedanken, mehr in Öl zu malen," begann er. "Und bin am Überlegen, wie ich es anstelle, was ich überhaupt malen soll und wo. Mir kam ein Gedanke und ich bräuchte Ihre Mithilfe dazu." - "Bitteschön." sagte Amélie. "Ich würde gerne versuchen, Sie und Ihre Tochter hier in ihrem Landhaus zu malen, als Auftragsarbeit, Mutter und Tochter Thièrs auf ihrem Landgut, wissen Sie, wie in der Renaissance, die Familie des Kaufmanns aus Leiden, der Kontormeister in seinem Kontor, und so fort. Es mag nicht eben zeitgemäß sein, aber es würde mich stark faszinieren, denke ich. Ich kann Ihnen nicht versprechen, ob es gelingt, es ist ein völliges Novum für mich." Amélie lächelte. "Ich bezahle es, wenn es mir gefällt", sagte sie. "Würden wir Ihnen lange Modell sitzen müssen oder wie wollen Sie es anstellen?" - "Ich denke, ich bräuchte nur jeweils eine Skizze von Ihnen zu machen, Sie bräuchten nicht einmal zusammen hier zu sein." - "Gut, wann wollen Sie anfangen?" - "Ich habe einen Block dabei, er ist auf dem Fahrrad. Ich würde am liebsten jetzt gleich eine Skizze von Ihnen machen, hier auf der Terrasse." - "Sie scheinen Überfälle zu mögen", sagte Amélie, "aber mir ist es so auch am liebsten, glaube ich." Paschke holte seinen Block und seine Stifte. Er skizzierte Amélie Thièrs, wie sie an dem kleinen Tischchen auf der Terrasse vor dem Kaffeegeschirr saß. Er arbeitete sehr konzentriert. Amélie schwieg lange. Sie vermied, ihn anzusehen. Sie wurde unruhig und die Unruhe legte sich wieder. Sie sah Paschke jetzt zu, wie er kurz aufblickte, wie er arbeitete. Ihr Gesicht verlor seine Maske. Ihre Augen weiteten sich. Dieser Mann gefiel ihr. Sie genoss es, ihn minutenlang anschauen zu können, weil er so konzentriert beschäftigt war. Paschkes Blick war ernst. Wenn er aufblickte waren seine Augen dunkel und klar. Sie betrachtete die scharfen Linien seines Kinns, seine schmalen Lippen. Seine Bewegungen und sein Blick ließen ihn erscheinen, als sei er allein, ohne Sprache, aber seine Erscheinung war sehr präsent. Amélie Thièrs begann, seine Anwesenheit zu spüren, auf der Haut ihres Gesichts, dann auf ihrem Brustkörper, zuletzt auf ihrem ganzen Körper. Sein Blick berührte die Wölbung ihrer Brüste, strich über ihr Knie, legte sich auf ihre Füße. Wenn er an ihr vorübersah, um die Balken der Terrasse zu zeichnen oder das Buschwerk vor der Terrasse war es, als ließe er sie aus einer Umarmung los. Wandte er sich ihr wieder zu, so glaubte sie, nicht aufstehen zu können. Sein Blick, seine Anwesenheit hielten sie fest. Einmal sah er sie an, öffnete den Mund leicht und atmete tief durch. Ein Schauer durchlief sie. Sie blickte ihm erregt in die Augen. Er blickte sekundenlang zurück, dann tauchte er wieder in seine Arbeit ein. In diesem Moment bemerkte Amélie, dass sie sich verliebt hatte. Sie blickte auf den Ententeich hinaus und empfand es als grotesk und beängstigend. Als Paschke nach über einer Stunde das Schweigen brach, hatte sie viel Kraft verloren. "Vielen Dank, Frau Thièrs. Sie waren sehr geduldig mit mir." Amélie sah ihn an. "Nennen Sie mich ruhig Amélie, George." Auch sie sprach seinen Namen französisch aus. Paschke blickte still zurück. Seine Augen schmälerten sich für einen kurzen Moment. "Ich danke Ihnen sehr, Amélie", sagte er ruhig. Ihren Namen sprach er weich und etwas stiller.

Am nächsten Morgen fuhr er in die Kleinstadt und kaufte Farben, Pinsel, vier Staffagen, Holzrahmen und Canvas. Der Händler würde alles nach Holzstetten liefern. Er ging zum Buchladen und bestellte Kataloge von Vermeer, Jan Steen, von Francis Bacon und Max Beckmann. Dann nahm er einen direkten Bus in die Stadt und fuhr in seine Wohnung. Er rief Susanne an. Sie war in ihrem Atelier. Er fuhr zu ihr, ließ sich ihre Arbeiten zeigen und verbrachte in der Folge einige Tage bei ihr im Atelier, übte sich in Öl indem er Fotografien und Bilder aus Katalogen abmalte. Susanne konnte ihm einiges beibringen. Sie war gerührt von der kindlichen Aufmerksamkeit mit der Georg Paschke alles aufnahm, was sie über das Malen mit Öl zu sagen hatte. "Du bist rührend", sagte sie, "wenn du etwas wissen willst, willst du es ganz genau wissen, wie ein Kind." Er lächelte sie strahlend an. "Es ist wahnsinnig aufregend, weißt du", sagte er.

Der Katalog ging in Druck und Susanne brachte Georg ein Exemplar mit ins Atelier. Er sah ihn schweigend durch. Aufmerksam las er, was Susanne über seine Bilder geschrieben hatte. "Du verstehst viel vom Malen und kannst es so klar formulieren, was dabei geschieht", sagte er. "Ich könnte das nie, dabei würde ich es so gerne wissen, was es ist." - "Ich verstehe dein Malen besser, als so manches andere", sagte Susanne. "Deshalb hab ich den Katalog ja machen wollen." - "Er ist wunderschön. Darf ich ihn behalten?" Susanne lachte. "Als deine Agentin kann ich das schon verantworten, glaube ich."

Abends gingen sie essen und Georg erzählte Susanne von Anna. Er war sehr aufgeregt und mitunter hatte er Tränen in den Augen. Susanne hörte still zu. Sie umarmte ihn und küsste ihn. Sie biss sich auf die Lippen und lächelte: "Wenigstens hat uns Anna damit einen talentierten Maler und sehr schönen Menschen auf den Weg gegeben." Georg lächelte sie mit nassen Augen an. "Liebe Susanne, jetzt hast du grad ein Kätzchen gerettet, das in den Bach gefallen ist", sagte er hilflos. 


XXI. Kapitel

Georg Paschke blieb beinahe drei Wochen in der Stadt. Er ging mit Susanne auf Ausstellungseröffnungen und ertrug es nur durch ihre Anwesenheit, von anderen Künstlern und von aufdringlichen Kunstinteressierten auf seine Arbeiten angesprochen zu werden. Edmund hatte das Elfentryptichon für einen unverschämten Preis verkauft. Diese Neuigkeit hatte in den einschlägigen Kreisen schnell die Runde gemacht. Paschke traf aller Spott und alle Lobpreisung der Neider. Mit Susannes Hilfe steckte er es weg.
Er begann, einige seiner Vorlagen in Susannes Atelier in Öl zu malen und stellte fest, dass er verhangene Tage dazu brauchte. Allzu klares Licht störte ihn. Die Farben, die er verwendete, wurden erst im Dämmerlicht lebendig und tief.

Ein merkwürdiger Vorfall führte schließlich zum Ende seines Aufenthalts in der Stadt: er erhielt ein Telegramm von Amélie Thièrs in dem sie ihn bat, sie umgehend anzurufen, Hélène sei verschwunden. Paschke rief sofort an, nachdem er das Telgramm im Briefkasten seiner Wohnung gefunden hatte.
"Oh, George, gut dass Sie endlich anrufen!" sagte Amélie Thièrs. "Ich war einige Tage nicht in meiner Wohnung", antwortete Paschke, "ich habe die Nachricht erst gerade erhalten. Was ist denn geschehen?" - "Wie ich Ihnen bereits andeutete ist Hélène seit etwa einer Woche nicht mehr nach Hause gekommen. Bis heute nicht. Ich hoffte, dass sie sich vielleicht an Sie gewandt hat", sagte Amélie. "Das hat sie nicht, tut mir leid. Wieso sollte sie das auch tun?" fragte Paschke vorwurfsvoll. "George, ich bitte Sie! Sie müssen bemerkt haben, dass sie einigen Eindruck auf meine Tochter gemacht haben. Ich hatte einen Streit mit ihr, bevor sie verschwand. Wir gerieten über Ihre Person in Streit. Es war deutlich für mich herauszuhören, dass sie in Hélènes Gedankenwelt eine wichtige Stellung innehaben. Offensichtlich ist sie ganz besessen von dem Wunsch, sich von Ihnen malen zu lassen. Sie können sich selbst denken, auf welche Weise. Hélène war ja dabei, als Sie diese Anneliese malten." - "Haben Sie denn `diese Anneliese' schon gefragt, ob sie weiß wo Ihre Tochter verblieben ist?" - "Ich habe nicht vor, mich an sie zu wenden", gab Amélie hart zurück. Paschke schwieg. Einige Sekunden vergingen. Dann sagte er: "Ich komme morgen nach Holzstetten zurück. Ich werde Sie sofort aufsuchen, Amélie." - "Danke", sagte Amélie erleichtert.

"Da bist du also bereits mitten in die Familientragödie der beiden hineingeraten, wie?" bemerkte Susanne am Abend vor Paschkes Abreise. "Sie macht sich Sorgen, das ist doch verständlich", sagte Paschke, "und sie hält mich für mitverantwortlich am Verschwinden ihrer Tochter." - "Das bist du aber nicht", sagte Susanne. Paschke sah sie unsicher an. "Sicher nicht", gab er zurück, "ich will sie aber nicht so hängen lassen. Sie kann sich ja an niemanden sonst wenden. Sie ist zu stolz, um mich direkt um Hilfe zu bitten". Susanne lächelte und zuckte mit den Schultern.

Paschke fuhr nach Holzstetten, brachte sein Gepäck in sein Zimmer bei Elli Gutbrandt und fuhr gleich zu Amélie Thièrs. Er beruhigte sie mit dem Hinweis, Hélène sei alt genug, auf sich aufzupassen und wolle sich für den Streit sicher rächen. Sicher sei sie bei irgendwelchen Bekannten untergeschlüpft Amélie sah ihn direkt an. Sie schüttelte leicht den Kopf. "Sie ist nicht weit. Ich habe Anzeichen dafür. Wenn der Hof leer ist, kommt sie her und lässt Spuren zurück, die mir zeigen sollen, dass sie hier war. Sie lässt Geschirr auf dem Tisch stehen, das sie benützt hat. Sie spielt mit mir". Paschke sah auf. Er fühlte sich überrumpelt. "Und was soll ich jetzt tun? Den Detektiv spielen, `diese Anneliese' verhören, Spuren sichern, eine Falle stellen?" Amélie seufzte. "Ich weiß es nicht, ich denke aber, dass sich Hélène an Sie wendet, wenn erfährt, dass Sie zurück sind. Und ich bin sehr erleichtert, dass Sie hier sind. Um offen zu sein: ich hatte befürchtet, dass Hélène zu Ihnen in die Stadt gefahren ist." Paschke sah sie an. Er fühlte den Verdacht. Sein Blick wurde kühl. Amélie wurde nervös. "Mein Gott, sie ist ein hübsches Ding, oder nicht?" Paschke schwieg und lächelte bitter. "Sie ist zuallererst mal ein durchtriebenes Luder", sagte er.

Er aß mit Elli zu Abend und ging dann in den Adler. Er wünschte sich, Susanne wäre hier. Er begann einen Brief an sie. Als er aufsah, sah er dass plötzlich Anneliese da war. Sie schaute von hinter dem Tresen zu ihm hin und blickte schnell weg, als er sie ansah. Paschke schrieb erst weiter, dann deutete er ihr an, dass er noch ein Bier wolle. Anneliese brachte es. "Ja, ich bin wieder hier", sagte er. "Ist das so fürchterlich, dass Sie mich so anstarren müssen?" Anneliese blickte ihn finster an und ging wieder weg. 
Als er an der Theke bezahlt hatte und ging, kam sie hinter ihm her auf die Straße hinaus. Paschke blieb stehen. Doch Anneliese hatte es sich überlegt und ging wieder ins Lokal.

Am nächsten Morgen machte er einen Spaziergang zum Bahnhof. Er ging um ihn herum und sah ihn sich an. Es waren genügend Fenster da, um in ihm zu malen. Er beschloss endgültig, Amélie Thièrs Angebot, auf ihrem Hof ein Atelier einzurichten, abzulehnen und hier im Bahnhof zu malen. Mit oder ohne Genehmigung des Gemeindevorstands in Gromberg. Er trat in den dunklen Innenraum. Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten bemerkte er, dass sich anscheinend jemand diesen Raum als Bleibe genommen hatte. Über die Lehne eines Stuhls war eine Regenjacke gehängt. Auf dem Stuhl lagen Kleidungsstücke. Auf einer Matte an einer Wand lang ein Schlafsack. Davor auf dem Boden einige Bücher, Schreibzeug, loses Papier, eine Taschenlampe. Frische Zigarettenstummel lagen auf dem Boden verstreut. Paschke schrak zusammen. Der Schlafsack hatte sich bewegt.
Er ging zu ihm hinüber und sah Haar aus ihm ragen. Er beugte sich leis hinunter. Dort schlief Hélène.
"Guten Morgen", sagte er sanft. Hélène fuhr auf. Als sie ihn erkannt hatte, lächelte sie gequält. "George. Sie sind es. Ich habe auf Sie gewartet." - "Ich mach erst mal Kaffee, bleiben Sie ruhig noch liegen", sagte Paschke. Er bediente sich der Utensilien, die Hélène für ihren Aufenthalt hierher gebracht hatte und kochte Wasser ab. Er fand Brot, eine Dose Margarine, Confiture und Käse. Er strich ein paar Brote. Hélène hatte sich aufgerichtet und sah ihm zu. Er goss Kaffee auf, brachte Hélène die Brote und nahm selbst eines. Er goss Kaffee in zwei Becher. Sie aßen schweigend. Paschke schenkte Hélène Kaffee nach und gab ihr noch ein Brot. Seine Bewegungen waren ruhig, beinahe sanft. Er sah Hélène kaum an, als sei es selbstverständlich, dass sie hier so frühstückten, wie vereinbart, im alten Bahnhofsgebäude, am frühen Morgen eines gewöhnlichen Wochentages. Nachdem sie das Frühstück beendet hatten rauchten sie. Paschke sah sich im Sitzen im Raum um. "Sie sind schon einige Tage hier, nicht? Haben Sie denn Wasser zum Waschen? Die Leitungen sind taub." - "Ich gehe zu Anneliese zum Duschen." - "Und wie lange wollen Sie noch hier bleiben?" Hélène schwieg. Nach einer Weile sagte sie: "Ich muss nachdenken. Ich möchte nicht zu meiner Mutter zurück. Ich möchte ganz hier vom Lande weg. Sie brauchen meiner Mutter gar nicht zu berichten, dass sie mich gefunden haben. Ich werde fortgehen, bevor sie mich findet."
Sie hatte sich, noch im Schlafsack, an die Wand gelehnt, rauchte. Paschke zog einen kleinen Skizzenblock aus seinem Mantel und begann, sie zu zeichnen. Sie schaute ab und zu finster zu ihm herüber. Während er weiterzeichnete sagte er: "Sie brauchen nicht zu denken, ich hätte vor, ihre Ausreißerromanze zu stören. Sagen wir, Sie wären schon woanders hingegangen, als ich hier im Bahnhof auf die Überbleibsel ihres Aufenthalts gestoßen bin. Dass Sie hier vom Lande fortwollen, kann ich verstehen. Werden Sie sich an Ihren Vater wenden?" - "Um Himmels Willen, nein!" Hélène blickte noch mürrischer. Paschke dachte nach. "Werden Sie meiner Mutter sagen, wo ich bin?" - "Blödsinn. Damit würde ich aus ihrem Verschwinden ja eine völlig kindische Ausreißergeschichte machen. Ich glaube nicht, dass das der Fall ist. Sie gehören nicht hierher, Hélène. Ich glaube, Sie wollen ganz einfach nicht mehr auf dem Lande auf einem Gutshof leben, der noch nicht einmal einer ist, sondern halt der Landsitz einer reichen Mutter, die sich aus dem Leben zurückgezogen hat. Wenn sie sich gegen so ein Leben auflehnen, möchte ich ihre Auflehnung schon respektieren. Sie können allerdings nicht ewig hier bleiben. Ihre Mutter war noch nicht bei der Polizei, so weit ich weiß. Sie hat mir von Ihrem Verschwinden erzählt. Sie vermutete, Sie hätten sich vielleicht an mich gewandt. Sie wird Sie sicher bald als vermisst melden, weil ich ja auch nicht weiß, wo Sie sind, klar? Dann wird man Sie irgendwann entdecken." Hélène sah ihn besorgt an. "Ich weiß aber nicht, wo ich hin sollte", sagte sie. Paschke überlegte. Dann griff er in seine Manteltasche, zog seinen Schlüsselring hervor und löste zwei Schlüssel heraus. "Hier, das sind mein Haus- und mein Wohnungsschlüssel. Ich schreibe Ihnen die Adresse auf. Sie fahren gleich mit dem Bus um 11Uhr 30. Ich werde zu Ihrer Mutter gehen und Ihr sagen, dass ich im Bahnhof Anzeichen für Ihren Aufenthalt dort gefunden habe. Sie wird dann sicher mit mir hier herkommen. Haben Sie Geld?" - "Etwas über 50 Mark, oder so." Paschke gab Hélène einige Geldscheine. "Sie müssen sich etwas zu Essen kaufen. Mein Kühlschrank ist leer. Wenn Sie jemand fragt, sagen Sie, Sie seien eine Nichte von mir und zu Besuch. Sie können ruhig alles benützen, was in der Wohnung ist, Geschirr, Kochtöpfe, Telefon, Handtücher und all so was. Gehen Sie aber nicht selbst ans Telefon, Ihre Mutter könnte einen Testanruf machen, hören Sie erst auf dem Anrufbeantworter mit, wer anruft. Hier, das ist die Telefonnummer einer Freundin. Susanne Happel. Rufen Sie sie an, wenn Sie etwas benötigen. Ich werde sie informieren, dass Sie in meiner Wohnung sind. Wundern Sie sich nicht, Susanne weiß, wer Sie sind. Ich habe Ihr von Ihrer Mutter und Ihnen erzählt. Kommen Sie, Sie müssen Ihre Sachen zusammenpacken." 

Nachmittags war er mit Amélie im alten Bahnhof gewesen, sie war dort geblieben, um auf die Rückkehr ihrer Tochter zu warten. Hélène hatte den Schlafsack, das Geschirr und den Benzinkocher dagelassen und Amélie glaubte, sie müsse ja spätestens zur Nacht zurückkehren. Am nächsten Morgen fuhr sie vor Ellis Haus vor und läutete. Elli war von der wohlhabenden Frau sehr beeindruckt, bat sie in der Stube zu warten, wobei sie sich für die Einfachheit ihres Hauses entschuldigte und holte Paschke herunter, der eben erst aufgestanden war. Paschke setzte sich zu Amélie in die Stube und hörte sich ihre Schilderung an während er frühstückte. Amélie Thièrs hatte die ganze Nacht lang im Bahnhof gewartet.
"Vielleicht hat sie bemerkt, dass ihr Versteck gefunden wurde. Ich bin selbst irgendwann dort im Bahnhof eingeschlafen, vielleicht ist sie gekommen, während ich schlief und hat mich entdeckt. Oder Anneliese hat sie gewarnt, Anneliese hat Sie möglicherweise gestern gesehen, bevor Sie an den Bahnhof gefahren sind und hat Hélène gewarnt. Ich bitte Sie, sprechen Sie mit Anneliese." - "Wissen Sie, Frau Thièrs, ich kann ja verstehen, dass sie besorgt sind, aber ich spiele sehr ungern Ihren Privatdetektiv. Ihre Tochter ist nach einem Streit mit Ihnen ausgebüchst. Gut, sie ist jung, in einem schwierigen Alter, zudem ist sie klug, ehrgeizig und vom Leben auf dem Lande gelangweilt. Anneliese, da haben Sie ganz recht, ist kein Umgang für sie, aber was sollte sie denn hier draußen für Menschen kennen lernen. Und wenn Sie schon glauben, dass Anneliese das Ausreißen Ihrer Tochter unterstützt, dann müssen Sie sie schon selbst zur Rede stellen. Dass die beiden Freundinnen sind, damit habe ich nichts zu tun." - "Meinen Sie, Anneliese würde mir sagen, wo Hélène ist, selbst wenn sie es wüsste?" Amélie blickte verzweifelt. "Ich bitte Sie, sprechen Sie mit ihr." - "Nun gut, sagte Paschke. Ich werde für Sie tun, was in meiner Macht steht. Sie müssen mir dann aber auch einen gewissen Handlungsspielraum gewähren. Hélène wird sich ja auch nicht so einfach von mir an die Hand nehmen und auf Ihren Hof zurückbringen lassen, nicht wahr." - "Sicherlich nicht, George. Aber ich denke, dass Hélène eher bereit wäre, mit Ihnen zu sprechen, als mit mir."

Amélie war schließlich gegangen. Paschke ging aus. Er machte einen langen Spaziergang. Im Grunde war es für ihn ein erleichternder Gedanke, dass Hélène nicht mehr hier draußen auf dem Land war. Die Mutter-Tochter Intrige war fürs Erste für ihn aus der Welt. Das machte seinen Kopf wieder frei für das, weswegen er hier hergekommen war: das Malen. Er schaute über die Felder und spürte ihre Leere. Keine Menschen. Keine Sprache. Er würde nicht sprechen dürfen, wollte er sich seinen Fragen nähern. Er dachte an die Nacht, als er Hélène im Scheinwerferlicht des Wagens gesehen hatte. Würde sie ihm jetzt hier draußen begegnen, würde er sich wohl wortlos über sie hermachen. Er lachte. Dann wurde er wieder still. Er ging zum Teich, wo er Anneliese und den Lehnerbauern zum ersten Mal beobachtet hatte. Es war kühl, und ein kalter Wind lag in den Weiden, die um den Teich standen. Paschke dachte an seine harmlose Kuschelbeziehung zu Susanne Happel und es war ihm unwohl bei diesem Gedanken. Susanne war freundlich und klug. Doch ihm fehlte ein Verlangen. Ein Verlangen, das hier im Wind in den Weiden wogte. Er beneidete für einen Moment sogar den Lehnerbauern um eine Erfahrung, die er nicht kannte. 

Abends nach dem Essen ging er auf sein Zimmer und sagte Elli, er wolle arbeiten. Doch dann schlich er sich in den Abend hinaus und ging zum Hof von Amélie Thièrs. Als er dort ankam, war es bereits dunkel. Er schlich sich an ein erleuchtetes Fenster und sah Amélie, die lesend in einem Sessel saß. Das Fenster war leicht geöffnet, und Amélie musste wohl den starken Wind im Zimmer drinnen hören. Wenn eine Bö allzu stark in die Büsche fuhr und die Fensterflügel leicht anstieß, blickte sie auf und zum Fenster. Sie konnte ihn aber nicht sehen, da er in den Büschen versteckt war. Einmal erhob sich Amélie und verließ das Zimmer. Sie löschte aber die Leselampe nicht. Sie würde also zurückkehren. Paschke riss ein Blatt aus seinem Skizzenblock und skribbelte in aller Eile eine Zeichnung darauf. Er stellte das Blatt an die Innenscheibe eines Fensterflügels und trat zurück. Amélie kam ins Zimmer zurück. Sie sah das Blatt erst nicht und las weiter, doch beim nächsten starken Windstoß blickte sie zum Fenster und entdeckte es. Sie erhob sich. Paschke ging ums Haus herum zum Eingang. Er wartete. Er läutete nicht. Es war bereits Teil des Spiels, dass er nicht läutete. Er wartete so lange, dass er schon dachte, Amélie könnte das Spiel nicht verstehen. Schließlich dachte er, sie wolle sich nicht darauf einlassen.

Ein einziger Moment kann die stillen Jahre der Verzweiflung plötzlich wegfegen. Dieser Moment ist nicht durch sorgfältige Analyse der Niederlagen und genaue Planung zu erreichen. Er ist nicht dem Willen, sondern vielmehr den feinsten Instinkten unterworfen, von denen wir nichts wissen, bis der Moment gekommen ist. Dieser Moment lauert einem auf, wie ein Raubtier. Man ist sozusagen sein Opfer. Ohne es zu wissen geht man seiner Wege, abwartend, ratlos, traurig. Und plötzlich erfasst einen der Drang, hinauszugehen ins Weite. Zu erspähen und zuzugreifen. Georg Paschke dachte an nichts mehr vor Amélie Thièrs' Tür. Nicht an Anna, nicht an Susanne, nicht an seine Malerei. Er hörte nur den Wind und spürte die Nacht auf seiner Haut. 

Nach einer langen Zeit öffnete Amélie die Tür. Paschke deutete mit einer Hand an, sie solle nicht sprechen. Sie hielt die Zeichnung in der Hand. Ein männlicher Schoß. Sie blickte Paschke lange in die Augen. Dann drehte sie sich um und ging ins Haus, ohne die Tür zu schließen. Er folgte ihr.
Sie ging ins Lesezimmer und löschte das Licht. Nur eine Lichtbahn, von einer Straßenlaterne durch die Fenster geworfen, erhellte schemenhaft das Zimmer. Die Wölbungen des Sessels, das Halbrund eines Tisches, der aus den Schatten ragte. Amélies Schultern, ihr Haar, einer ihrer Ellbogen, dessen Konturen sich deutlich durch den Stoff ihrer Strickweste abzeichnete. Sie stand vor dem Sofa ohne sich umzuwenden. Der Wind bewegte die Fensterflügel, so dass sie aneinanderstiessen. Amélie schaute zu ihnen hinüber, Paschke den Rücken zugewandt. Er trat von hinten an sie heran und umschlang sie fest. 


XXII. Kapitel

Am späten Vormittag erwachte Paschke neben Amélie, die bereits wach war. Sie schaute nachdenklich vor sich hin und als sie bemerkte, dass er aufgewacht war und sie ansah, lächelte sie zu ihm herüber. "Ich bin glücklicherweise aufgewacht, als die Haushaltshilfe zur Arbeit kam und konnte gerade noch verhindern, dass sie in mein Zimmer kommt." - "Ich geh über die Tür, die auf die Veranda führt. Dann bleibt es unser Geheimnis", sagte Paschke. "Und mach dir keine Sorgen wegen Hélène, ich bin sicher, dass ich sie finde!" Er kleidete sich an, verabschiedete sich mit einem Lächeln: "Es war eine schöne Nacht, Amélie. Ich werde jetzt Ihre Tochter für Sie finden", sagte er und war hinaus.

Er ging zu Fuß nach Holzstetten zurück, sein Schritt war leicht und schnell. Er erzählte Elli von der verschwundenen Hélène, und dass er bei Frau Thièrs gewesen sei, die sich große Sorgen machte. Sie aßen zusammen zu Mittag. Am Nachmittag ging er zum alten Bahnhof. 

Am folgenden Abend nahm Paschke den späten Bus in die Stadt. Er rief in seiner Wohnung an und lud Hélène zum Essen ein. Sie verabredeten sich in einem Restaurant nahe seiner Wohnung. Hélène schien plötzlich erwachsener. Sie war ernst und still. Ihr Lächeln war nicht mehr frech, sondern warm. Sie hatte einen ruhigen Zug um die Mundwinkel angenommen, der jetzt nichts mehr von der jugendlichen Auflehnung an sich trug, die zuvor aus ihren Gesichtszügen gesprochen hatte. Sie schien erholt, wie nach einem langen Schlaf. Sie redeten über die Stadt, übers Leben auf dem Lande. Paschke redete davon, was er an der Stadt liebte und Hélène hörte ihm still und interessiert zu. Hélène war in Edmunds Galerie gewesen und hatte sich Paschkes Bilder angesehen. Die restlichen Bilder kannte sie jetzt aus dem Exemplar des ersten Ausstellungskatalogs und der Entwürfe zu Susannes neuem Katalog, die sie in Paschkes Wohnung gefunden hatte. Sie erzählte es ihm. Dann sagte sie: "Ihre Bilder gefallen mir sehr. Das ist jetzt nicht nur kein Kompliment, ich meine es wirklich so. Ich kannte Ihre Bilder bisher nicht. Wie Sie wissen, ließ mich meine Mutter die Bilder nicht sehen, die sie von Ihnen erstanden hat."

Später gingen sie spazieren und zuletzt in Paschkes Wohnung. Hélène machte Tee. Sie saßen im Zimmer. Hélène saß auf einem Stuhl an Paschkes rundem Tischchen. "Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie mich in Ihrer Wohnung wohnen lassen. Ich hatte seit längerem vor, von meiner Mutter fortzugehen, doch ich wusste nicht, wohin. Mein Vater würde mir vielleicht Geld zur Verfügung stellen, aber ich wollte es meiner Mutter nicht antun, mich an ihn zu wenden. Er hat sie sehr schlecht behandelt." - "Sind Sie denn dort draußen zur Schule gegangen oder besuchen Sie ein Internat?" fragte Paschke. Hélène lachte. "Oh nein, die Schule habe ich noch hier abgeschlossen, bevor ich mit meiner Mutter aufs Land gezogen bin. Ich habe vor etwa einem Jahr das Abitur gemacht." - "Vor einem Jahr? Ich denke, Sie sind noch keine 18." Hélène schaute ihn fragend an. "Hat das meine Mutter gesagt?" Sie schüttelte den Kopf. "Das möchte sie vielleicht, dass ich immer ihr Häschen bleibe. Ich bin 20. So alt wie Anneliese aus diesem Holzstetten. Ich hätte schon letztes Jahr an die Universität gehen sollen." Paschke war überrascht. "Und wieso sind Sie nicht an eine Universität gegangen?" - "Ich hatte Mitleid mit meiner Mutter. Sie war nach der Trennung von meinem Vater sehr einsam und unglücklich, deshalb blieb ich bei ihr. Leider bevormundet sie mich, wie ein kleines Mädchen. Das hat mir die Sache sehr verleidet. Nun, jetzt bin ich ja endlich fort."
Paschke atmete tief durch. Er lachte. "Und mir hat man Angst gemacht, dass ich mich als Mädchengrabscher schuldig mache." - "Verzeihen Sie, ich habe Sie angelogen, was Anneliese betrifft. Ich dachte, Druck auf Sie ausüben zu können, damit Sie mich auch malen." - "Schon gut, es macht nichts, ich bin ja froh, dass wir jetzt keine Rücksicht mehr zu nehmen brauchen." - "Werden Sie mich unter diesen neuen Umständen nun einmal malen?" - "Wir werden sehen, Hélène. Ich muss mich an den Gedanken noch etwas gewöhnen." Hélène blickte ihn lange an. "Bleiben Sie heut Nacht hier?" Paschke schüttelte den Kopf. "Ich glaube nicht, dass das gut für uns wäre." - "Warum nicht?" - "Sie wären sicher enttäuscht von mir, Hélène. Ich kann Sie vielleicht malen, das traue ich mir zu. Ich mochte diesen Abend mit Ihnen. Vielleicht können wir ihm weitere folgen lassen und dann weitersehen." Hélène nickte lächelnd. "Sagen wir doch du zueinander," sagte sie. "Gerne, Hélène."
Zum Abschied umarmten sie sich. Hélène küsste Paschke kurz und zärtlich auf den Mund. Er war ganz verstört und ging schnell die Treppe hinunter.


XXIII. Kapitel

In der darauf folgenden Zeit wohnte Paschke bei Susanne Happel. Er überließ Hélène seine Wohnung und informierte Amélie Thièrs über den Verbleib ihrer Tochter. Amélie Thièrs, die einige Tage in großer Sorge um Hélène und wohl auch in Angst vor der Einsamkeit verbracht hatte, schrieb Hélène einen langen Brief, in dem sie sich für die Bevormundung, mit der sie Hélène behandelt hatte, entschuldigte und andeutete, dass sie wohl verstünde, dass Hélène nun ihr eigenes Leben zu führen gedachte. Sie bot ihr an, ihr in Zukunft die Kosten für die Wohnung und einen kleinen Unterhalt zukommen zu lassen. Hélène schrieb sich in die Universität ein und übernahm den Mietvertrag von Paschkes Wohnung. Paschke nahm diese Gelegenheit zum letzten Schritt hinaus gerne an. Er hatte damit keine eigene Bleibe mehr in der Stadt. Er würde bei Susanne wohnen können, wenn er sich in der Stadt aufhalten würde.
Bald begab er sich wieder nach Holzstetten in sein kleines Zimmer bei Elli Gutbrandt. Er fühlte sich dort wohl und konnte das erste Mal nach den Ausstellungseröffnungen und Galeriebesuchen in der Stadt wieder wirklich ausspannen. Elli buk für ihn am Tage seiner Ankunft und sie saßen im Garten, erzählten ein wenig, tranken Kaffee und aßen Kuchen.
Es war ein Brief von der Gemeindeverwaltung in Gromberg für Paschke gekommen, in dem ihm angeboten wurde, den alten Bahnhof für einen geringen Mietpreis als Atelier zu nutzen. Er war wochenlang damit beschäftigt, das Gerümpel im alten Bahnhof in einen der Räume zu schaffen und den Ort benutzbar zu machen. Susanne kam manchmal für einige Tage zu Besuch und ging ihm zur Hand. Sie erlebten friedliche Tage auf dem Land. Susanne und Elli Gutbrandt freundeten sich über die Zeit allmählich an und Elli besuchte Susanne sogar einmal in der Stadt. Sie war sehr stolz auf sich nach dieser Reise, die sie viel Mut gekostet hatte. Sie ließ es sich nach ihrer Rückkehr jedoch nicht anmerken, sondern erzählte Paschke nur, dass es ihr bei Susanne sehr gefallen hätte und sie einmal sogar eines seiner Bilder, eines das sie kannte, im Fenster einer Galerie entdeckt hätte.

Manchmal besuchte Paschke Amélie Thièrs auf ihrem Hof und von Zeit zu Zeit kam sie in den alten Bahnhof, um seine Arbeiten zu sehen. Gelegentlich malte er sie auch. Ihre Beziehung blieb in einer nie durch klärende Worte beschwerten Schwebe, welche eine erotische Spannung zwischen ihnen ermöglichte, die sich von Zeit zu Zeit heftig und wortlos entlud, ohne direkte Konsequenzen einzuleiten und ohne eine wirkliche Annäherung herbeizuführen.

Manchmal ging er nachts spazieren und horchte in den Zorn des Windes oder die klirrende Stille der Sternhimmel. Er stellte ungerührt und doch ratlos fest, dass er einsam war, sehr einsam. Sein neues Leben war höhepunktslos ruhig. Doch es gelang ihm nicht, in der Sonne auf den Feldern oder unter den Bäumen in Ellis Garten so etwas wie einen Frieden entdecken zu können oder eine Zugehörigkeit. Er hatte sich zu Anna gehörig gefühlt, doch nur ein bleierner Verlust war davon geblieben. Fleisch, das wir sind. Er spürte das Dunkel, das selbst an den friedlichsten Tagen in den Waldrändern lauerte. Ein geducktes Schwarz, das er in der Nacht beben fühlte, wenn er am Fenster stand und rauchte. Er verstand es nicht. Er malte es in seine Bilder, die sich besser und besser verkauften, und Susanne schrieb ihre schönen Texte darunter. Doch er verstand es nicht.


Nachwort

Der Bus war in einer engen Rechtskurve mit dem linken Vorderrad in ein tiefes Schlagloch geraten. Da er mit überhöhter Geschwindigkeit fuhr, kam er leicht ins Schlingern, kein richtiges Schleudern, eher nur ein verstärktes Querdrehen und Wippen der Karosserie auf dem Fahrwerk, das der Fahrer aber ausgleichen zu müssen glaubte. So geriet das Fahrzeug noch in der Kurve sehr weit an den rechten Straßenrand und erfasste einen Radfahrer, dessen Hinterrad von der Stoßstange des Busses herumgerissen wurde. Der Radfahrer wurde auf die Straße geschleudert und geriet unter die Hinterräder des Busses. Der Körper des Mannes wurde zwischen den blockierenden, rutschenden Hinterrädern des Busses und dem Straßenbelag zermalmt. Sein Fleisch und seine Knochen lagen zerrieben zu einer roten Spur an der Innenseite der Straßenkurve.

Die Gemeindepolizei ermittelte den Toten als Georg Paschke, der zuletzt in Holzstetten, Gemeinde Gromberg, bei Frau Elisabeth Gutbrandt zur Miete gewohnt hatte.