DIE LEICHTEN JAHRE. Erzählung. Band V.

E-VERLAG. BERLIN seit 1998. Verlagsnummer: 05P/16-03-97 (seit etwa 1992)
Erzählung: <Paul>. Band V.
MobilVerlag (¿.) Berlin 2008. ?? ??JAN2009. ©Harald Settele 

Vorbemerkung

Karl sitzt in seinem Geschäft. Von seinem Schreibtisch aus sieht er durchs Ladenfenster auf die Straße. Ein warmer Tag. Die Menschen gehen mit entspannten Gesichtern vorbei, viele, die nicht allein gehen, lachen. Karl betrachtet es wie in einer Beklommenheit. Denn für ihn gibt es keine solche Unbeschwertheit mehr. Die Bilder die er sieht, scheinen nicht mehr in seinem Inneren anzukommen. In dem es treibt. Wo es saust und wild ist.
Brandung einer Endgültigkeit, die nicht mehr wegzunehmen ist aus der Zeit. Überall ist das Licht. Karl atmet seicht, sein Herz schlägt dumpf. Er ringt mit sich. Seitdem er weiß, daß Paul zurück ist und Lisa sich ihres
Liebhabers wieder annimmt, weiß er, daß er etwas entscheiden muss. Wie der kleine Satz ihr entschlüpfte: Paul ist zurück.
Seit diesem Moment weiß er, daß nichts sein wird wie es war. Lisa sprach den Satz ziemlich gleichgültig hin. Doch ihre Augen waren nicht bei Karl, als sie ihn sagte. Karl weiß, daß er dort nichts zu suchen hat, wo Lisas Augen waren und wo dieser Satz gesprochen wurde.
Er schaut durch sein Geschäft, seine Dinge, die er so leicht liebt, die bei ihm sind. Lisa ist es nicht mehr seit Pauls Rückkehr. Sie ist hier oder dort. Karl ist zu klug, um sich für einmalig zu halten. Gewiss, es gibt keinen Zweiten wie ihn. Doch die Seele der Menschen streift umher und findet keine Heimat.
Das macht ihm Angst. Karl hat zu viel zu verlieren. Er hat viele Menschen verloren, die er liebte. Er mag das Wort nicht. Die er liebte. Er sagt: zu denen ich uneingeschränktes Zutrauen hatte.
Lisa ist der letzte Mensch, zu dem Karls Seele dieses Zutrauen hat. Er kann nicht wissen, was danach kommt. Er fürchtet es. Wie er noch nie etwas gefürchtet hat. Er hat Lisa von dieser Furcht erzählt. Die eine einfache Eifersucht darin sah. Darauf hatte Karl geschwiegen. Unsere Worte reichen nicht bis an das Dunkel unserer Seele.
Er hatte lange geschwiegen. Viele Tage lang. Die Freundlichkeit zwischen ihm und Lisa war dieselbe gewesen. Doch er hatte zum ersten Mal gespürt, wie ihm etwas in seinem Innersten entglitt, das seinen letzten Reichtum ausgemacht hatte. Das nichts als eine Illusion gewesen war, ein Traum, eine Farce vor jedem vernünftigen, modernen Menschen. Seine Situation war grotesk, er war als dummer Knabe hingestellt, lächerlich. Naiv. Was
wollte er von Lisa? Lisas Freundlichkeiten waren weit neben der Wahrheit, wenn auch nicht verlogen. Doch hinter diesen Freundlichkeiten hatte sich ein Abgrund aufgetan, über den Lisa sprang, als gäbe es ihn nicht.
Karl hatte gefühlt, wie ihm sein Platz unter den Menschen verlorenging. Eine Sicherheit war ins Wanken geraten. Die des Menschen der weiß, daß er nicht alleine ist, obschon er alleine ist sein Leben lang. Wie wenn wir sicherer unsere einsamen Wege gehen, weil unser Herz jemandem gehört. Wie wenn wir lächeln, zwischen schweigenden Wänden einer Nacht, weil wir an einen warmen Körper denken, der uns vertraut ist.

Lächeln, das Karl verloren hat.

Der Wunsch nach Rettung war ihm gekommen. Erst kindlich. Er hatte sich diesen Paul wieder fortgewünscht. Dann hatte er nach einer Rettung gesucht, die seiner Vernunft genüge getan hätte. Bis er zuletzt dachte, daß eine Trennung von Lisa vielleicht erträglicher wäre, als sein banges Verlieren, das er nie zu fassen vermochte. Nächte an ihrer Seite, die sein Herz zerfleischten, ohne daß sie es geahnt hätte. Wenn er in die Wohnung kam und sie war nicht da. Früher kein Gedanke. Heute bange Furcht, sein Verlieren könnte in diesem Moment betrieben werden. Dass er noch an die Geliebte denke, während diese den anderen liebte. Vertrautheiten, die unser Erinnern an den anderen so leicht machen, mit einem anderen getauscht. Du und ich. Er hatte sich schließlich zur Ruhe gezwungen. Wie der Vater, der die geliebte Tochter bei einem Liebhaber weiß. Doch er war nicht Vater. Er hatte sich als den wohlwollenden Freund gedacht. Doch sein Herz gehörte ihr zu sehr. Er hatte Formen der Gleichgültigkeit probiert. Lisa war ihm nicht gleichgültig.
Er hatte es mit Tricks gegen sich versucht, als sei er einsam und Lisa eine Bekannte, die ihm ans Herz gewachsen. Es war eine Lüge. Da waren die Jahre ihres gegenseitigen Zutrauens. Es war ihm klar geworden: es gab keinen gangbaren Ausweg mehr. Er musste Handlungen folgen lassen, Entscheidungen treffen. Er hatte Lisa gebeten, Paul um eine Zusammenkunft zu bitten. Vielleicht erleichtere es ihm Entscheidungen. Es war schon ein
Nachgeben gewesen, eine Schwäche. Doch auch ein erzwungener Schritt: es würde sich dann etwas bewegen.
In einer plötzlichen Bewegung greift Karl zum Telefon. Er wählt schnell. Hallo Lisa, ist zufällig Paul bei dir? Es geschieht etwas Verblüffendes. Einige Sekunden vergehen, da hört er diesen Paul sprechen, dessen Stimme er noch nie gehört hat: ja bitte?
Karls Herz beginnt zu toben. Er fasst sich. Er hat diesen Moment gewollt. Er spricht. Ich bitte Sie, sofort meine und Lisas Wohnung zu verlassen! Seien Sie jetzt nicht ungehalten, ich habe meine Gründe. Ich weiß wohl, daß mir so eine Aufforderung im Grunde nicht zusteht, doch muss ich Gründe geltend machen, die sich jenseits geltenden Rechts oder Übereinkünften gepflogenen Umgangs der Menschen untereinander bewegen. Lassen Sie mich diese Gründe hier mit meiner Würde umschreiben. Die Verwobenheit unserer Situation schafft in mir Zustände, die mit einer aufgeklärten Vernunft allein nicht zu bewältigen sind. Ich bitte Sie, das zu respektieren. Ich muss Sie bitten, Lisas und meine Wohnung nicht mehr zu betreten.
Für einige Momente hört er ein kurzes Zögern im Telefonhörer. Dann sagt Paul ruhig: verzeihen Sie. Ich respektiere Ihren Wunsch. Ich erkenne seit kurzem, daß unsere Situation unlösbar ist. Sie darf nicht dauern. Nicht auf diese Weise. Ich werde Ihre gemeinsame Wohnung nicht mehr betreten. Ich danke Ihnen, sagt Karl nur und hängt auf. Um ein Treffen bittet er nicht.

Lisa hat aus Pauls Antwort genug gehört um zu wissen, was geschehen ist. Sie blickt Paul besorgt an. Und nun? Paul ist sehr ernst. Nun ist das Spiel Ernst geworden, sagt er. Ich werde darüber nachdenken müssen, ob ich dich, ohne mich zu widersetzen, verlieren möchte. Du wirst eine sehr schwere Entscheidung treffen müssen, bei der dir niemand helfen kann. Es kann nicht mehr so sein, wie früher. Die leichte Zeit eines Anfangs ohne Verantwortlichkeiten ist irgendwann vorüber und nicht wiederholbar. Jede nahe Begegnung wird ein Fluch. Ein
Spiel mit Menschen ist nur möglich, wenn man alles Erreichte zu jedem Zeitpunkt auch wieder aufzugeben bereit ist. Das bin ich nicht mehr. Lisa schaut aus dem Fenster. Ich auch nicht, sagt sie still. Und deshalb werde ich es jetzt wohl aufgeben müssen.

Paul sieht sie an. Plötzlich weiß er, daß er viel verlieren kann. Dort, in der Welt. Und daß es keine Leichtigkeit mehr gibt für ihn und Lisa. Früher hätte er um der Leichtigkeit willen von Lisa gelassen. Doch er ahnt, daß er diese Frau liebt. Und in der Liebe gibt es keine Leichtigkeit. 

Karls Begegnung mit Lisa war überschattet von seiner gleichzeitigen Abkehr von den Menschen. Karl war nicht einer, der leicht zwischen den Menschen ging oder leicht an einen Menschen geriet. Lachend ein Spiel begann. Eher zögernd hatte er noch ein weiteres Mal sein Herz geöffnet. Lisa. Die stille Distanz dieser jungen Frau hatte ihn seine Vorsicht umgehen gelehrt. Eine Unbeschwertheit hatte sich Raum geschaffen zwischen seinen alten Verletzungen. Er hatte eines Tages bemerkt: er war Lisa dankbar dafür. Um das Erreichen einer Nähe, die er für sich verloren geglaubt hatte.
Karl geht langsam nach Hause. Dort ist die Tür zweimal verschlossen. Also ist Lisa nicht da. Er sperrt auf,
erleichtert, ihr jetzt nicht entgegenzutreten zu müssen. Und doch mag er die leere Wohnung jetzt nicht. Er setzt sich in die Küche, isst ein Abendbrot. Er greift sich ein Buch, das er schon lange Zeit kennt, das er über die Jahre wieder und wieder gelesen hat. Ein Buch aus der Zeit vor Lisa. Diese Zeit ist ihm wieder nah in diesem Buch. Dass es Räume gibt, in denen wir frei waren von all den Gefühlen, die in uns sind. Dass wir in Zuständen lebten, die uns fremd sind in der Abwesenheit ihrer Gefühle. So lang verloren diese Zustände, diese Räume ein Traum unserer gegangenen Zeit. Als wir jünger waren. Unwissender und doch sicher auf unsere Weise. Karl weiß, daß er verloren hat. Er hat ein Ultimatum formuliert, für das er kein Pardon mehr zu erwarten hat. Unsere Herzen scheuen das Diktat der Wirklichkeit. Schrecken vor den Tatsachen zurück, die unser Bewusstsein anerkennen muss. Lisas Herz würde sein Ultimatum nie verzeihen, auch wenn sie es verstünde. Sie mochte verzichten, doch der Verzicht käme nicht aus ihrem Herzen. Dieses Herz würde ihm, Karl, auf immer misstrauisch begegnen, denn sein Ultimatum zwingt es, zu verzichten. Karl kaut mutlos auf seinem Abendbrot. Wir wünschen uns, das Herz der anderen möge aus freien Stücken unser sein. Karl weiß, daß er Lisas Herz jetzt in die Wirklichkeit gezwungen hat. Elend legt er sich schlafen.

Paul und Lisa haben kaum gesprochen nach Karls Anruf, jeder allein mit der drohenden Entscheidung. Schließlich ging Paul nach Hause. Seitdem ich nicht mehr dein Clown bin, liebe ich dich. Hat Paul zum Abschied gesagt. Jetzt steht er am Fenster in seiner Küche und schaut in den stillen Hinterhof. Der ein
anderer ist als vor der Zeit mit Lisa. Ihre Schritte hallten zwischen den Mauern dieses Hinterhofs. Es ist wohl schon Geschichte, denkt Paul. Jetzt fällt nur noch der Regen in den Hof.

Wie jung Paul plötzlich wieder ist. Ohne den Halt der Jahre, die voll Ereignissen schienen. Er begreift, daß er Lisa verliert. Und eine alte Haltlosigkeit bietet ihm allein wieder ihren Schutz. Denn wenn ihm nichts in der Welt gehört, so gehört ihm die Welt nicht. Und gehört ihm die Welt nicht, so gehört ihm nur der Tod.

Die leichten Jahre

Es soll hier nicht unser Thema sein, woher Paul kommt. Er ist zurück, soviel soll uns genügen. Einige Jahre sind vergangen, seitdem er das Spiel mit Lisa an die Schwere die mit der Liebe kommt verloren hat, und die darauffolgenden Ereignisse waren unseren Blicken entzogen. Nun fehlen uns einige Jahre an seiner Geschichte, die wir, wie alles Verlorene, nie mehr werden aufholen können. Lassen wir sie dahin sein. Wir behalten
viele Beiläufigkeiten und verlieren darüber den Faden weit wesentlicherer Vorgänge, die nur in der großen Zeit verstanden werden. Auch das gehört zu unserem Menschsein, daß uns die kleine Zeit immer wieder aus dem langen Atem der großen Zeit herausreißt, und es ist vielleicht unsere einzige Chance.

Er hat sich wenig verändert, dieser Paul. Die Jahre haben natürlich an ihm gearbeitet und es könnte unsere Aufgabe sein, die Zeit dieser Jahre an Paul aufzuzeigen. Sie anhand seiner Person sichtbar zu machen und so nachzuweisen. Doch wahrscheinlicher ist, daß wir in Wirklichkeit ohne Aufgabe sind. Dass eben dies der Grund ist, warum wir unseren Blick wieder auf Paul richten. Wie wir Narren sind, ohne Publikum. Ungehörte
Lieder. Eine kleine Bewegung in den Jahrtausenden.

Er spricht weniger, dieser Paul. Worte haben ihm kein Glück gebracht in seinen schweren Jahren, die uns verloren gegangen sind. Wir sehen ihn in seinem Zimmer am Fenster sitzen, wo er schreibt. Seine Schreibsprache, die auch er nicht sprechen kann. Er schaut über die Zeilen und lächelt. Er hat seine kleinen
schwarzen Zeichen nicht verloren. Wie ein wortloses Glück kommen seine Stimmen wieder zu ihm zurück, die ihm erzählen, ob er es will oder nicht. Vielleicht kann nur der noch etwas sagen, der weiß, daß er nichts mehr zu sagen hat.

Pauls Stimmen kümmern sich nicht darum, ob es sinnvoll ist, was sie sprechen. Sie malen die nackten Wände einer Seele aus, weil es Spaß macht, sinnlos zu klecksen. Weil die Gefühle im allzu großen Schweigen den anfallen, der sie haben muss. Paul geht Streit gern aus dem Wege. Und er mag seine Gefühle. Also muss
er ihnen Auslauf gönnen, sonst müsste er sie abschaffen. Es ist eine Zeit, in der seine Gefühle wieder zu ihm sprechen. Paul liebt Stimmen. Er hat geweint, nachdem er einer Stimme am Telefon zugehört hat. Nicht wegen der Worte, die sie sagte. Wegen der Stimme. Er hat der Stadt Stimmen gegeben, dem Lärm der Maschinen
auf seiner Arbeit, damit er ihnen lauschen kann. Seine eigene Stimme hat er seinen Liedern geliehen, damit er lauschen kann was sein Herz sagt, wenn seine Worte versagen. Er versteht die Menschen nicht, die nur auf die Worte achten. Er achtet mit den Jahren immer weniger auf die Worte, die einer spricht. Er hört nur auf den Klang der Stimme.

Paul weiß, daß er von seiner Wahrheit eingeholt worden ist. Ihm scheint, daß er trotz aller gültigen Lehren, der Psychologie, der Soziologie, der Physik und der Philosophie, ein Schicksal besitzt, dem nicht zu entrinnen ist. Er sieht die Aufgabe seines Lebenswegs darin, dieses Schicksal zu erkennen und seine Erfüllung möglich zu machen. 

Er kann, wenn er sich Gedanken zu seiner Existenz macht, nur eines klar erkennen: den Unterschied der Weltgeschwindigkeit zu seiner eigenen. Es kommt ihm vor, als könne er in seinen guten Zeiten die Welt überholen. In den Zeiten seiner Niederlagen ist dagegen die Geschwindigkeit der Welt so groß, daß er nicht
mit ihr Schritt halten kann. Sein Schicksal ist eine Frage von Geschwindigkeiten, die es gegeneinander auszubalancieren gilt. Auf die Geschwindigkeit der Welt und seine Verwirrung und Ratlosigkeit, mit der er ihr gegenübersteht, hatte er unter dem Eindruck der Begegnung mit Lisa mit kompromisslosen Lebensentwürfen reagiert, lächerlichen Träumen eines adoleszenten Schwärmers. Er hatte das Bild einer lebenslangen
Liebesbeziehung gemalt, die rührende Vorstellung Kinder großzuziehen, die die seinen gewesen wären. Doch dann schlug ihn eine Niederlage und mit Lisa vergingen seine Träume. Er schuf sich Entwürfe, die seine Zärtlichkeit aus den Bezirken der Sehnsucht in die Wirklichkeit tragen sollten. Er hatte seine Aufmerksamkeit erkannt und suchte nach Erfüllungen seiner klaren Natur, die ihm selbst zuweilen simpel und bäurisch erschien.
Seine Begegnungen mit Menschen brachten ihn dazu, die ihm eigene Wachheit als besonders wertvolle Eigenschaft zu verstehen.

Seine Jugend war dahingegangen und seine Ziele hatte er nicht erreicht. Es kostet ihn heute wenig, sich sein Scheitern einzugestehen, doch er steht erneut ratlos vor einer schnellen Welt. Wenn er lächelnd von den Gräbern seiner Entwürfe zurückkehrt, bleiben ihm nur seine Lieder, die Lieder eines tiefen Verlusts sind. Die Schlaflieder für seine ungeborenen Kinder.

In der Zeit, als seine Begegnung mit Lisa zu einer verbotenen Liebe geworden war, war sein Freund, der Idiot, in eine Anstalt eingeliefert worden. Da Paul wieder arbeiten gegangen war, hatte er sich nicht mehr um den Idioten kümmern können. Manchmal war der alte Mann tagelang verschwunden geblieben. Hatte sich verlaufen, vergessen, wer er war. Paul hatte ihn oft von Polizeistationen abgeholt. Als der Winter gekommen war, waren
die Umnachtungen des Idioten für sein Leben gefährlich geworden. Eisnächte im Stadtpark. Verlorener Spaziergänger auf der Schnellstraße. Paul besucht den Idioten gelegentlich in der Anstalt, einem privaten Sanatorium, von dessen Kosten Paul den Teil trägt, den die bescheidene Rente des Idioten nicht mehr abdeckt. Manchmal nimmt er Herrn Hölderlin mit. Die Besuche sind für Paul die einzigen leichten Momente mit einem Menschen. Die Abschiede grausam. Wieder alleine dort hinaus zu müssen. Wo keiner sich so fremd fühlt wie der Idiot. Oder Paul.

Manchmal noch trifft Paul Lisa. Verabredungen in Cafes oder Restaurants. Sie setzen sich so, daß der Tisch sie trennt. Sie erzählen sich vorsichtig aus ihren Leben. Meist gehen sie schnell wieder auseinander. Einmal sagte Paul: die Harmlosigkeit unserer Treffen ist eine Lüge. Lisa sagte nichts. 

Ihre Treffen werden seltener. Paul bemerkt, wie Lisa die Begegnungen mit ihm anstrengen. Sie erzählt manchmal von Karl. Wie man vor einem Menschen, der einem verboten ist von einem Menschen spricht, den man respektiert. Paul hört sich diese Erzählungen still an. Zum Unbeteiligten geworden durch die rätselhafte Kraft der Achtung, die Lisa mit Karl verbindet. Paul wünschte, er hätte Karl kennengelernt. Oder dieses Gefühl der tiefen Achtung, das Lisa für ihn empfindet.

Paul geht weiter arbeiten. Man braucht ja nun einmal Geld. Daran hat sich nichts geändert. Menschen und Situationen rühren ihn noch immer, doch ist das Spiel der Rührungen weniger leicht, als vor Jahren. Es ist wie eine Erinnerung an die früheren Jahre. Leicht, allzuleicht, ohne irgendein Gewicht fällt dieses Spiel in Pauls große Zeit und schlägt nicht mehr ganz zu ihm durch. Seine Worte vermögen seine Rührungen nicht mehr zu
vermitteln. Er liest alte Aufschriebe und hört seine alten Lieder und hat den Eindruck, daß er nicht imstande ist mehr zu sagen.

Paul meldet sich nicht mehr bei seinen Freunden. Nur den Idioten besucht er von Zeit zu Zeit. Doch Hannah, Maurice, Herrn Hölderlin oder Lisa sieht er nur noch, wenn sie auf ihn zugehen. Die Begegnungen sind halb, Paul hält sich sehr zurück, hört zu, kommentiert. Doch seine Stimmen singen andere Lieder, die er nicht nach draußen lässt. Die Begegnungen strengen ihn an und er wird schnell müde. Manchmal legt sich vor der Müdigkeit eine Traurigkeit auf seine Seele, daß er die Begegnungen verloren hat, die er so liebte, die hellen, klaren, geschwinden Worte, das Lachen. Sein Lächeln in die Gesichter ist ein warmes Damals. Es gilt dem Heute nicht mehr. Paul kann die Menschen nicht mehr ganz verstehen. Die Zeit rollt über ihn hinweg. Er wehrt sich nicht mehr, lässt die Arme sinken, winkt schließlich ab, nachdem er einen vielversprechenden Halbsatz begonnen hat.

Nur wenn er alleine ist leuchten seine Augen, und sein kleines, leichtes Lächeln spielt um seine Mundwinkel. Er spürt, wie ihn dann die Menschen anblicken. Wie er ein Mann ist, in den man sich verliebt. Doch er weist Angebote von Fremden sofort höflich zurück. Er traut sich den Sprung in ein anderes Leben nicht mehr
zu. Die bebenden Blicke in das Schwarz der Augen eines anderen. Paul blickt heut scheu zur Seite, wenn ihn ein Herz rührt. Denn seine Sprache hat den Mut zur Wirklichkeit verloren.

Unter den Menschen ein Sonderling, hält er doch im Alleinsein seinen Kopf noch hoch. Ein Einfall bringt ihn ans Lachen, das laut durch seine stille Wohnung schallt oder einen Kollegen wundert. Er liebt das Treiben, das ihm ziellose Umher seiner Welt. Er hält jemandem lächelnd die Tür auf, er huscht in den Laden und besorgt ein Geschenk. Er findet warme Worte für die Hysterischen, er zeigt Verständnis für die Betrogenen. Er
schüttelt den Kopf. Oh mein Gott, denkt er, merken sie es denn nicht. So ist er noch der alte, auch wenn ein matter Vorhang über sein Glück gezogen ist. Doch Paul bleibt zuletzt zuversichtlich. Das Leben ist ein Tanz, ein Stolpern, ein Fallen, ein sich Erheben.

Und vor ihm sind die Jahre. 

Herr Hölderlin besucht den Idioten im Sanatorium. Es ist das Eulenbergsanatorium auf dem Eulenberg. Es liegt etwa 8oo Meter hoch an einem See. Das Esszimmer des Sanatoriums liegt zu einer Wiese hin, die zum See leicht abfällt. Der Idiot erzählt Herrn Hölderlin einen Traum: in dem die Stimmen des Lichts zu ihm gesprochen hätten. Sie hätten erzählt, Paul sei fort, unauffindbar, unbekannt verzogen. Seinen neuen Wohnsitz habe er in den Bezirken seiner Märchen genommen. Nur dort seien Paul sachte Begegnungen noch möglich. Paul sei aufgewacht, aufgestanden, habe den Prinzessinnen des Morgens einen Gruß entboten und sei abgereist. Ein geschwinder Seitenschritt, ein rettender Sprung aus einer Katastrophe. 

Paul habe ihn besucht und ihm erzählt, er wende sich wieder den Geschäften in Ashara zu. Der Idiot blinzelt Herrn Hölderlin verschwörerisch zu: Ashara ist das Land, das nur Paul kennt, sagt er. Aber er erzählt mir manchmal davon. Der Idiot schaut auf den See hinaus und nickt stolz. Er weiß jetzt um die Geschäfte des Prinzen Taju in Ashara. Mit getragenen Worten erzählt er Herrn Hölderlin von Ashara. Aber pst, er schaut sich um ob sie jemand hören kann, man darf nicht gleich jedem von Ashara erzählen:

Ein großes Volk von Reiternomaden, so habe Paul erzählt, bedrohe Ashara und seine Nachbarn. Nach einem langen Krieg, der Ashara bis an den Rand der Erschöpfung getrieben habe, habe Taju, der Prinz, die Reiternomaden zuletzt in Asharas Südebenen geschlagen, nur einen Tagesritt von der Hauptstadt entfernt. Als versklavtes Volk seien ihre Reste in Reservaten angesiedelt worden. Doch sie seien nicht zur Ruhe gekommen. Paul habe von einem Aufstand erzählt, der ganz Ashara in Furcht und Schrecken versetzt habe. Gewaltige Reiterhorden seien mitten durch Ashara gezogen, das geglaubt hatte, endlich Ruhe zu haben. Morden und
Brandschanzen der Nomaden habe das Reich erschüttert.
Asharas habe einen nordöstlichem Nachbarstaat. Dort sei die Königin Baghra, die alte Widersacherin des Prinzen Taju, an die Macht gelangt. Asharas Nachbarland im Osten, Philoja, habe diese Baghra eben erst vom Thron gestürzt, den sie an sich gerissen hatte, und sie verjagt. Nun habe sie begonnen, die Nomaden bei ihrem Aufstand vom Norden her zu unterstützen, ihnen Waffen und Geräte zu liefern. Das Reiterheer der Nomaden habe sich gegen Philoja gewandt. Um sich in den dicken Mauern seiner Hauptstadt vor den asharakidischen Heeren verschanzen und alle Gegner des Prinzen in Ashara anhalten zu können, sich an dem Aufstand zu beteiligen und das Reich Ashara zu zerschlagen.

Paul habe ihm genau geschildert, wie die Asharakiden die Wagenkolonnen mit Lebensmitteln und Waffen aus dem Norden abgefangen hätten, die Baghra zum Nomadenheer geschickt habe. Es sei zu Ende des Winters gewesen, als die Nomaden nichts auf den Feldern gefunden hätten, durch die sie auf Philoja zugeritten seien. Sie hätten Philoja schnell nehmen müssen, hätten sie nicht verhungern wollen. Es sei wie ein Wettlauf gewesen. Taju sei ihnen vom Westen her nach Philoja entgegengezogen. Die Stadt hätte sich keine paar Stunden halten können. Dann habe Paul von der Schlacht erzählt. Sechzigtausend asharakidische Reiter hätten das Reiterheer der Nomaden kurz vor den Toren Philojas abgefangen. Der Idiot ist sehr aufgeregt. Spricht von dampfenden Pferden, Schaum vor dem Mund, die über Verletzte stapfen. Die Schreie, die dumpfen Hiebe der Schwerter, das scharfe Sirren der Pfeile. Paul habe gesagt, daß das Schlachten vom frühen Nachmittag durch die ganze Nacht bis in den Morgen gedauert habe. Dann sei das Reiterheer der Nomaden vernichtet gewesen. Die Ebene vor Philoja besäht mit Leichen.

Der Idiot hält inne mit seiner Schilderung. Es ist furchtbar, sagt er zu Herrn Hölderlin, nicht, all das Blut, die vielen Toten. Waren Sie im Krieg?
Herr Hölderlin schweigt. Wie soll er darüber reden? Ich war kein Soldat, sagt er nur, ich war zu jung. Ich war in Hamburg.
Dann kennen Sie die Bombennächte, sagt der Idiot tonlos. Und die Morgen danach. Wenn man die Toten ausgrub und sammelte. Herr Hölderlin sagt: kommen Sie hinein, wir gehen einen heißen Tee trinken.
Haben Sie noch Ihren Kiosk? fragt der Idiot. Ja, sagt Herr Hölderlin. Sind noch immer dieselben Gestalten, die dort bei mir ihren Tag verbringen. Der Idiot nickt. Sein Blick wird trübe.
Herr Hölderlins Kiosk war einer der wenigen Orte. Er erinnert sich an heißen Punsch an kalten Nachmittagen. Ich glaube, ich würde nicht mehr zu Ihrem Kiosk finden, sagt er nach einer Weile. Herr Hölderlin schaut ihm ruhig in die Augen. Seien Sie nicht traurig, sagt er, sie haben es hier viel schöner. Ja, sagt der Idiot, nur manchmal ist es hier sehr still und etwas zu freundlich. Und ich könnte ja doch nicht fort.

Herr Hölderlin isst noch mit dem Idioten zu Abend, dann muss er auf den letzten Bus, der in die Stadt fährt. Der Idiot begleitet ihn bis zum Eisentor des Anstaltparks. Weiter kann ich nicht mit Ihnen kommen, sagt er leis. Sie verabschieden sich wortlos. Herr Hölderlin geht die Straße hinauf zur Bushaltestelle. Ab und zu wendet er sich um. Der Idiot steht an den Eisenstäben des Anstaltzaunes und winkt ihm nach.

Der Bus ist fast leer. Schweigen im lauten Dröhnen, wie der Bus durch das Schwarz des Waldes torkelt. Inzwischen ist es draußen dunkel und Herr Hölderlin sieht sein eigenes Gesicht in der Scheibe. Ein altes Gesicht. Seine Augen sind müder als die des Idioten und doch etwas lebendiger. Er schüttelt den Kopf.

Erste Lichter tauchen draußen auf, die Vorstädte. Junge Menschen steigen ein, die den Abend in der Stadt verbringen wollen. Es ist das Wochenende und sie werden erst morgen wieder mit dem ersten Bus aus der Stadt hinausfahren. Herr Hölderlin hört sie lärmen. Der Bus dringt in die Häuserschluchten der Stadt ein, wo es laut ist, wo die Menschen schnell und ohne aufzusehen auf den Gehwegen gehen, wo die Lichterketten der Wagen von Kreuzung zu Kreuzung eilen. Hier ist Herr Hölderlin zu Hause. Er sieht sich beruhigt um. Dann denkt er an den Idioten und schüttelt wieder den Kopf: da ist diese Stadt so drängend voll und doch erscheint ihm die Abwesenheit des Idioten wie eine spürbare Leere zwischen den Fassaden. Er drückt den Halteknopf, steht auf und geht zur Tür. Ein Quietschen. Ein Ruck. Herr Hölderlin steigt aus.


Späte Zeit
Dämmerung
Stunde die Hoffnung
Trauer und Asche trägt

Atem holn
einsam sein
Herbst der Gedanken
und letzte Zuflucht für mich

Abendland
Abendland
ich achte und verachte dich

Traumloses Erwachen im lauten Gras neben der Autobahn. Ohne Erinnerung. Nur ein unklares Gefühl im ganzen Körper trägt noch eine Ahnung von der Heftigkeit des Sturzes. Des Aufschlagens. Des Weiterrutschens. Rollen. Die Beine, die Arme wie die einer leblosen Marionette. Jetzt die zartblaue Stille des Himmels über dem Autobahnkreuz. Auf einer Trage in die Leichtigkeit nach dem Umfall gehoben. Im nackten Krankenzimmer das erste vorsichtige Erheben. Sich zu erheben ist einer der einsamen Akte des Menschen. Es kann nicht erzählt werden. Wer sich schließlich wieder erhebt ist ein Fremder. 

Paul reist nach Stuttgart, seiner alten Heimatstadt. Wortlos und einsam steht er über den Hügeln. Wo in den Jahren nach seinem Fortgehen sein Name schließlich verloschen war. Dort, zwischen den Hügeln, hinter denen die Welt begann, hatte Paul oft auf einer der Aussichtsplattformen an diesen Hügeln über der Stadt gestanden und über den Horizont gesehen. Der ihn rief. Ruf, den er gefürchtet hatte. Nun steht Paul wieder dort, viele Jahre später und schaut über die ihm jetzt fremde Stadt seiner Kindheit und Jugend. Von wo er sich zum ersten Mal erhoben hatte, leicht zuletzt, heimatlos, fremd, ohne Bündnisse.

Es wird Abend. Abend der Abreise, einer seiner Abreisen aus Stuttgart. Paul fährt zum Bahnhof, besteigt früh seinen Zug, der noch still im Dunkeln steht, lange vor der Abfahrt. Nacht aus Blei. Abendhimmel aus Farben wie Stahl. Pauls Erschrecken über das Dunkel, das in ihm tönt vor den grünen Hügeln und ihren unbeschwerten Menschen. Stuttgart, verlorene Liebe.

Es wird eine Zeit kommen, denkt Paul, da werde ich wissen, daß meine nie geborenen Kinder mein Leben kosteten und gewannen. Ob er diesem Land noch etwas hinterlässt oder nicht, die grünen, zersiedelten Hügel werden in all ihrer schönen Fremde ohne ihn weiter daliegen, verwöhnt, begnadet, gleichgültig. Den Freitod hat Paul bereits vor langer Zeit vollzogen, nach seinen Ekstasen, deren letzte das Zusammentreffen mit Lisa war, die den Reigen beendete und neu zum Tanz rief, zum Tanz des einsamen Narren nach dem Fest, nach allen Festen, leicht, wehmütig. Auf seinem Gesicht manchmal ein bittrer Hauch, nur die vorsichtigen Augen sind noch nicht ganz erloschen, während sein Körper bereits erlischt. Lang aus dem Leben genommen, tanzt er den Lebenden seinen Tanz, erzählt Lisa seine Geschichten, oder dem stillen Papier, wartet auf den Tod zwischen seinen Momenten aus einem einfachen Glück. Wie er wartet, bis der Zug aus dem Bahnhof zieht, zwischen Pauls geliebten Hügeln, die verschlossen und schön liegen und hinter der Ferne zurückbleiben in die er fährt, Heimat, Glück des Verlassens, Schmerz des Verlassens, sein Halt in einer zurückfliehenden Welt, die ihm nie gehörte und die er liebt. So tritt er in ungekannte Säle, tanzt auf unbekannten Böden, und niemand hat es dort bemerkt. Man betrachtet ihn wohlwollend, man lädt ihn an Tische, an die er nicht sitzen kann, denn sie gehören den Lebenden. Die Stimme ruft seinen Zug aus dem Stuttgarter Hauptbahnhof. Paul sieht hinaus, in die Dämmerung, allein, zerrissen, wundes Herz. 

Er reitet mit dem Prinzen nach der großen Schlacht nach Ashara zurück. Durch Asharas östliche Provinzen. Der Prinz der Asharakiden reitet sehr schweigsam. Melder haben es bestätigt: die schöne Baghra selbst ist gefangen. Wurde aus ihrem hastig aufgestellten Heer von zehntausend armen Bauernsöhnen des nordöstlichen Nachbarn Asharas geholt, von nur viertausend Asharakiden. Der Befehlshaber der zehntausend Bauernsöhne, armselig, schlecht bewaffnet und ernährt, ließ sich überreden, kein unschuldiges Blut mehr für die Verräterin, die Schlange, zu vergießen. Lieferte sie aus, für den freien Abzug seiner zerlumpten, frierenden Bauernsöhne nach Norden. Jetzt gehört Baghra Taju, wie ihre Steinstatue in seinen Gärten, die sie ihm in Zeiten schickte, als er noch friedlich mit ihr verhandelte. Vor dem Einfall der Reiternomaden in Sasu und Ashara. Vor den Überfällen der Inselreiche des Westmeers auf seine Häfen. Vor den Intrigen der asharakidischen Shuimakiden gegen ihn. Die er niedergeschlagen hat. Aus den Inselreichen wird gemeldet: ihr Kalif hat sich unterworfen. Taju hat gesiegt im Norden, im Osten, im Süden, auf dem Meer im Westen. Heer der jungen Adligen vernichtet, die ihn zusammen mit dem shuimakidischen Volksstamm stürzen wollten.

Paul sieht ihn still von der Seite an, wie er neben ihm reitet. Den stillen, nachdenklichen Herrn des wieder mächtigen Ashara. Paul weiß, daß Taju an die vielen Schicksale denkt, die Baghra gebrochen hat: Freunde und Gefährten des Prinzen, die von Baghra getäuscht wurden und oft mit ihrem Leben bezahlten. Der junge Prinz des Kettengebirgsreiches Monakija, ihr verfallen wie sein Vater, der Monakide, der ihr Reich für sie vergab. Taju überlegt, was er mit dieser Kriegsbeute tun soll. Hat Baghra selbst nur einmal gesehen. Im Palast zu Ashara, in den ewigen Gärten. Weiß, daß sie von zauberhafter Schönheit. Leicht war ihr Wortspiel. Zwei junge, schöne Menschen, gemacht für eine lange Freundschaft. Bis Baghra nach zuviel Macht griff und Asharas Todfeindin wurde. Taju hatte lange noch versucht, mit ihr zu verhandeln. Doch Baghra hatte seine Gesandten erniedrigt, gefoltert, ja, töten lassen. Nun ist sie seine Gefangene. Taju ist unwohl bei dem Gedanken.

Paul treibt sein Pferd an. Will vor Taju in Asharas Palast die Gefangene sehen. Er blickt zurück im Galopp: Taju grüßt ihn mit erhobenem Arm.

In der Stadt Ashara die Vorbereitungen zum Empfang des Siegers. Altes, prachtvolles Ashara. Der Stadtkommandant hat das Zentrum des shuimakidischen Aufstands, den Flottenpalast am Hafen, stürmen lassen. Alle Verschwörer sind in Gefangenschaft oder erschlagen.
Paul erreicht den Palast. Er wird als Freund des Prinzen freundlich empfangen. Er geht in den Kerker zu Baghra, die er nie gesehen hat. Er ist erst vor Philojas Toren zu Taju in die Geschichte getreten, nach der Vernichtung der aufrührerischen Nomaden. 
Baghra ist an eine Wand gekettet. Sie soll sich nicht töten können. Zwei Haremsdamen des Prinzen unterhalten die gestürzte Königin. die Thronräuberin, die Intrigantin. Paul tritt ein, in seiner Kleidung des späten 20. Jahrhunderts der modernen Zeitrechnung. Die in Ashara kein Begriff ist. Dort zählt man die Jahre nach dem Erscheinen des Kometen Pelo. Oder nach der Stadtgründung. Paul trägt sein blaues Leinenjackett. Er tritt vor Baghra. Sie ist wunderschön. Wie nur Frauen im Märchen schön sein können. Eine kleine Frau, zierlich. Die Haremsdamen treten zurück. Paul blickt Baghra schweigend in die Augen. Sie erwidert ruhig seinen Blick. Paul spricht ruhig auf Asharakidisch: hier ist Ihre Geschichte zu Ende, Madame. Baghra lächelt: wer seid Ihr, daß Ihr das wisst, fragt sie still. Paul antwortet: ich selbst schreibe Ihre Geschichte; ich habe sie immer geschrieben, Madame. Jetzt bin ich in mein eigenes Spiel getreten, um meine Figuren in Fleisch und Blut anzutreffen. Ihre Geschichte ist damit zu Ende.
Baghra sieht ihn an. Wann kommt der Prinz? fragt sie. Wenn ich es will, antwortet Paul. Er steckt sich eine Zigarette an. Baghra betrachtet es mit Entsetzen. Erschrecken Sie nicht, sagt Paul, dieser kleine Stab zu Asche
ist nur ein Genussmittel. Er tötet Zeit. Er hat wenig andere Bedeutung. - Genießt Ihr es, mich hier so zu sehen, fragt Baghra. Paul antwortet: ich genieße es, mein Spiel so wirklich zu erleben. Er geht hinaus.

In den Gärten werden Laternen aufgehängt. Der Prinz wird zur Nacht zurückerwartet.

Paul sitzt auf einer Terrasse des Palasts über Ashara. Regen fällt, und ein Vordach, mit buntem Stoff bespannt, schützt ihn. Taju tritt zu ihm auf die Terrasse. Der Regen wäscht Ashara rein von dem Schmutz der Monate, die hinter ihm liegen, sagt er. Paul fragt: habt Ihr Baghra schon gesehen? Der Prinz lächelt. Ich werde Sie nie wieder sehen, denn ihr alter Name ist erloschen. Ihr Name wird jetzt von den Schriftzeichen Asharas gezeichnet.
Ich werde eine neue Baghra kennenlernen. Die Damen des Palasts mögen sie nicht in den Harem aufnehmen. Ich muss ihr eine besondere Aufgabe im Palast zuweisen. Ihr sollt das für mich tun, Paul. Ihr habt viel diplomatisches Geschick. Paul lächelt.
Der Prinz geht und lässt die gefangene Baghra zu Paul auf die Terrasse bringen. Sie hat eine Woche lang kein Tageslicht gesehen. Blinzelt. Reibt sich die Handgelenke. Tiefe Fesseln des Kerkers. Paul weist ihr einen Sessel zu. 

Willkommen in Ashara, sagt Paul auf Asharakidisch. So seh ich dieses Land, wie sein Name auf es fällt, antwortet Baghra. So seh ich dieses Land, wie sein Name auf es fällt, wiederholt Paul auf Deutsch. Die gefangene, gestürzte Königin blickt ihn an. Auf Asharakidisch fährt Paul fort: dieser Regen <Ashara> beendet Ihr altes Leben und schafft zugleich Ihr neues. Nichts ist nach diesem Regen, wie es vorher war. Das Reich Ashara ist erneuert, seine Bedrohungen abgewendet. Euer Spiel ist auch beendet. Ihr habt hier viele Feinde, die Euch gerne tot sähen. Doch der Prinz hat entschieden, daß ihr zunächst den Schutz der Gastfreundschaft dieses Palastes genießen sollt. Ihr werdet in einem kleinen Tempel in den Gärten wohnen. Nur Eure Schwester, die Ihr vor Jahren als Geisel gesandt habt, eine Gouvernante und eine Köchin werden dort mit Euch sein. Über Eure Pflichten und Aufgaben am Hofe des Prinzen ist noch nicht entschieden. Ihr könnt Euch denken, daß Euer Aufenthalt an Tajus Hof für den Prinzen zu Schwierigkeiten mit Asharas Nachbarstaaten führen könnte. Er hat jedoch entschieden, Euch nicht den Prozess zu machen. Er nimmt Euch sozusagen aus dem wirklichen Spiel er Geschichte in das Spiel seines Palasts. Im Palast selbst seid Ihr jedoch bedroht. Es gibt zu viele Neider die Hasardeure hier am Palast zu einem Mord anstacheln könnten. Der Prinz wird Ihnen daher einen versteckten Landsitz, ein Landschloss bauen lassen, zu dem man Sie heimlich bringen wird, denke ich. Baghra sieht Paul mit einem schmalen Lächeln an. Sie sagt lakonisch: Da Ihr meine Geschichte selbst schreibt denke ich, ich kann Euren Worten trauen.

Paul zieht sich in sein Gemach im Palast zurück. Seine Fenster blicken über den Park und die Stadt. Paul legt sich auf ein Canapée, von wo er liegend über die Stadt Ashara schauen kann. Er schläft ein.

Er besucht den Idioten auf dem Eulenberg. Sie gehen bei Einbruch der Dunkelheit um den See spazieren. Man hört von fern die Rufe von Eulen über das Wasser. Der Idiot bleibt stehen und wendet sich zu Paul um. Er sagt: hier vergisst man den Lärm der Welt. Dann hört man plötzlich wieder verloschene Namen und Stimmen. Ich habe eine Stadt in Trümmern am Meer gesehen. Eine schöne junge Frau stand dort an einer verfallenen, etwa brusthohen Mauer und lächelte mir zu. Ich kannte die Frau, sie war einmal zu Herrn Hölderlin an den Kiosk gekommen, um eine Zeitung zu kaufen. Jetzt war sie in meinem Traum plötzlich in dieser verfallenen Stadt am Meer. Glauben Sie, daß diese Stadt Ashara war? Paul zuckt mit den Schultern. Vielleicht war es auch Atlantis? sagt er. Ach was, antwortet der Idiot, Atlantis! Das ist doch nur eine erfundene Geschichte. Paul lacht, schaut
auf den See hinaus, in die nüchterne, traumlose Stille über dem kalten Wasser.
Der Idiot ist verstimmt über Pauls Lachen. Sie haben mir doch selbst von Ashara erzählt, sagt er trotzig, wieso sollte nicht auch ich in dieses Ashara reisen können. In diesem Leben kann ich ja sowieso keine Reise mehr machen. Paul sieht ihn an. Entschuldigen Sie, sagt er. Und nach einer Weile: ja, ich glaube durchaus, daß Sie nach Ashara reisen können. Schade, daß wir uns dort jedoch nie werden treffen können, denn man kann dorthin immer nur alleine reisen. Der Idiot nickt. Sein Blick wird müde.
Ja, sagt er, man ist immer sehr einsam, wenn man an solche Orte reist. Ich habe das viele Jahre lang erlebt. 
Ein bleiernes Grauen befällt Paul bei diesen Worten des Idioten. Schweigend gehen sie weiter um den Eulensee. 

Auf der Kuppe eines bewaldeten, einsamen Berges im Herzen Asharas, in Bashbakija, was Waldland heißt, lässt Taju an einem See einen kleinen Palast errichten. Der Berg ist unbesiedelt. Im umliegenden Waldland bestellen auf großen freigehauenen Lichtungen ein paar wenige Bauern ihre Felder. Städte gibt es in der Umgebung des Berges nicht. Auch keine größeren Siedlungen. So sind die Nächte auf dem Berg schwarz und still. 
Der Palast liegt völlig einsam. Nachts die verlorenen Rufe der Eulen im Nebel, nach denen See und Berg benannt sind: der Eulensee auf dem Eulenberg. Schwarze, lautlos fliegende Vögel. Wie die verwunschenen Seelen entführter Kinder. Mio, mein Mio.

Paul reist zum Eulenberg. Der Palast ist noch nicht ganz fertig. Es ist Abend und die Arbeitskolonne des Prinzen kampiert in hölzernen Wagen auf der Wiese vor dem Rohbau. Paul hört sie lachen und erzählen, auf Asharakidisch, dieser weichen, melodischen Sprache, die ein Teil des Abends zu sein scheint. Paul entfernt sich von den Arbeitern, ihre Stimmen wehen von weit herüber. Steht am Seeufer in der Nacht und lauscht auf die
Eulenrufe. Geht um den See. Alte Stimmen sprechen zu ihm und sprechen ihn schuldig. Entsetzt hastet er zurück zu seiner Kutsche und fährt zurück nach Ashara. Lässt den Kutscher direkt zum Palast des Prinzen fahren. Paul steigt rasch auf die Mauern. Dort findet er den Prinzen. Taju blickt auf zu den Sternen. Paul bemerkt die innere Zerrissenheit des Prinzen. Im Fenster von Baghras Pavillon ist noch Licht. Paul tritt neben ihn. Geht zu ihr und bittet sie um einen Spaziergang in der Nacht, sagt er.
Wenn Ihr es wünscht, antwortet der Prinz willenlos. Doch er zögert, sieht über die schlafende Stadt. Paul huscht fort. Der Prinz schaut zum Horizont. Noch ist kein heller Streifen dort erkennbar. In wenigen Stunden erst wird es Tag. Taju hört ein Geräusch. Er wendet sich um. Dort steht Baghra in der Dunkelheit.
Verzeiht, Prinz, sagt sie leis. Taju lächelt ihr zu. Sie kommt heran, sagt: Euer Bote sagt, diese Nacht sei stärker als eure Gelübde. Der Prinz nickt schweigend. Fasst Baghra bei den Händen. Das Weiß ihrer Augen blitzt auf im Dunkel. Taju blickt sich nervös nach Paul um. Er ist nirgends und überall, sagt Baghra. Du hast die Wahl.

Ein Diebstahl, nur matt beleuchtet von den Lichtern der Straßen. Paul lehnt still an der Wand in einer Ecke des kleinen Zimmers im Pavillon. Er weiß, daß die beiden gleich kommen werden, zur verbotenen Nacht. In der das Spiel die Gestürzte noch einmal zur Königin macht, an deren Liebe der Prinz glaubt, ohne ein Zögern. Im matten Schein der Laternen der Liebestanz der Körper. Paul genießt ihre Schönheit, die erst behutsam ist, dann wild. Kein Wort fällt, als solle Paul nichts zu Ohren kommen, kein unbeschwertes Wort, das er niederschreiben könnte. Doch er weiß, daß dieser Diebstahl die Leichtigkeit in des Prinzen Leben zurückbringen wird. Leichtigkeit, für die sich Baghra in dieser Nacht opfert.

Ob sie es wusste?

Paul gönnt sich die paar Minuten im Freien zu sitzen, bevor er zur Arbeit muss, den Cappuccino, das Pellegrino, die Zigaretten, im metallenen Klappern und Wachstuchflattern der Markise im beinah irischen Wetter, das seine Fahrt vorwegnimmt, die er während einiger freier Tage in das Land, das Ashara von den ihm bekannten Ländern noch am nächsten kommt, plant. 
Paul blickt auf, in die Wolkenhaufen. Wie weit sie sind. Wind treibt sie rasch über den Himmel, knattert in der Markise. Kurze Regenschauer fallen aus den kleinen Wölkchen, ebben sofort wieder ab. Sonne bricht aus dem Regen. Paul wirft den Spatzen den Keks hin, der mit dem Cappuccino kommt. There's whiskey in the jar, Musik aus den Cafelautsprechern. Irland, nie genommene Zuflucht. Hier, unter einem Himmel wie über Dublin, erklärt Paul seine Liebe zu Irland.

Seine tote Schwester kommt die Körtestraße herauf und wendet sich ins Café. Setzt sich zu Paul ins Licht. Erstes Morgenlicht, das sie möglich macht. Schweigend raucht sie eine Camel mit ihm, die Marke, die sie rauchte. Paul ist ein Freund des Alleinseins. Weil die Menschen Gedanken an den Tod meiden wie ein Tabu. Sie weiß es. Sie weiß, wie wenig Worte vermögen und spricht ihn nicht an. Sie blickt über den Südstern in die Wolkenhaufen. In die sie ging. Aus denen sie kam. April über Stuttgart. Pauls Aufschrei ins Leben. Across the universe. Sein Schrein, den er ihr in einer Nacht in seinem Zimmerchen schuf, an ihrem alten Schreibtisch. Ihr Tod, ein Opfer an den Lärm der Welt. Ihr Körper, verlorenes Lied in der Straße. Die grausamen Photographien, die es nicht erhalten können. In den grellen Wolkenhaufen ihr Name. Ein Wind, ein Regenschauer, ein Licht. Paul sieht nach ihr hin, doch sie ist fort.


Es gibt aber ein Glück
wenn nur kleine Wellen spielen
an vertrauter Schulter

im Lärm der Tage klingt es 
still zwischen der Heftigkeit 
der Welt die würdelos brüllt 
nach einem unerreichbaren Glück


Erst in der Leichtigkeit des Verzichts macht die Welt helle Geschenke. Eine Annäherung muss zögernd sein und behutsam, sonst wird sie im Lärm der Welt vergessen. Dort im Norden wirft die Nacht ihre glühenden Schatten selbst ins grellste Licht der Tage. Ashara liegt irgendwo dort, im Norden. In den Südmeerreichen verbrennt die Sinnlichkeit zu blödem, lautem Lärm.

Taju schreibt unter Bäumen am Vormittag an einem Traktat, dem Traktat des hellen Leibes. Leib, der mehr ist als ein Körper. Das beseelte im Körper, das Licht. Das, was mehr ist als Formen, Haut, Fleisch. Das, was in einem Körper singen kann. Das, wofür wir einen schönen Körper heilig nennen mögen, wonach wir uns sehnen mögen, wenn eine Berührung versagt. Es gibt eine rein körperliche Liebe und eine Liebe, die dem Leib zugewandt ist und die völlig unkörperlich bleiben kann. So schreibt Taju. Die Hingabe des Leibes in einer körperlichen Liebe scheint ihm eine metaphysische Hingabe, jenseits der Wirklichkeit des Fleisches, wortlos, leicht, freundlich.
Taju bittet Paul, dem Asharakidenpalast einen Hofmaler zu finden. Paul beruft Georg Paschke, einen Maler aus seiner Nachbarschaft, den er manchmal in seinem Stammcafé getroffen hat, an den Hof des Asharakiden. Er soll die Damen des Harems zeichnen. Ein Vorwand. Seine eigentliche Aufgabe ist eine andere. Denn Paschkes erster Auftrag vom Prinzen ist ein Bild von Baghra. Die Nacktheit der gestürzten Königin, auf ihrem Sofa hingestreckt.

Georg Paschke arbeitet schweigend. Baghra zeigt ihren Körper mit Stolz. Doch sie wird unsicher an der schweigsamen Konzentration, mit der Paschke arbeitet. Kühle Konzentration des zwanzigsten Jahrhunderts, die Baghra beschämt, denn ihr ist nur die warme, sinnliche Konzentration ihrer Zeit geläufig. Paschkes klarer Verzicht an der Sinnlichkeit des Vorgangs des Zeichnens kränkt die Königin und macht sie wieder zur Gestürzten.

Baghras fragendes Gesicht auf der Zeichnung Paschkes. Ihr Blick wirkt verunsichert, wie sie selten blickt. Der Prinz lässt das Bild im Vorraum seines Schlafgemachs anbringen und einen Vorhang davor anbringen, den nur er öffnen darf, um dieses Bild zu betrachten. Spiegel alles Schönen, gekränkt durch kühle Betrachtung ohne Anteilnahme. Das die entblößte Baghra auf ihrem Sofa liegend zeigt. Sie ist auf einen Ellbogen gestützt, der ihren Oberkörper erhebt. Sie blickt den Betrachter an. Ein Bein ist lang ausgestreckt, das andere aufgestellt. Eine ihrer Hände ruht auf dem angewinkelten Knie, der Arm auf dem aufgestellten Oberschenkel.

Paul betrachtet in des Prinzen und Paschkes Beisein das Bild im Vorraum zum Schlafgemach. Sie schweigen. Baghras Schönheit ist ohne einen emotionalen Kommentar des Künstlers abgebildet. Klar, echt, schnörkellos. Haut und Haar, Klarheit der Linien. Das Fleisch ist Fleisch. Die Augen sind Blick. Paschke hat sich nicht angemaßt, irgendetwas anderes über die gestürzte Königin zu behaupten. Sie betrachten das Bild lange. Dann sagt Paul
still: Ich beglückwünsche sie zu dieser Arbeit. Der Prinz schweigt.

Der Prinz spricht selten von der Schönheit der Körper. Baghra, ihm von Paul zum Geschenk ersonnen, Juwel in seinen Gärten. Die nicht im Palast der Hauptstadt bleiben darf. Denn nur Träume und Phantasien machen süße Lügen möglich. Doch die wirkliche Welt erlaubt zuletzt keine Lüge. So lässt der Prinz Baghra in einer Regennacht fortbringen lassen. Zwei zum Tode Verurteilte bringen sie und einige junge Gouvernanten in einer geschlossenen Kutsche aus der Hauptstadt auf den Palast auf dem Eulenberg. Die Gouvernanten sind erst kurz in Ashara, Kriegsbeute eines der vielen Kriege. Ihre Augen sind verbunden und sie werden nie den Weg zurück finden. Die Wachmannschaft auf dem Eulenberg, sechzig Krieger, die der Krieg zerstört hat und die dem Leben abgeschworen haben um auf dem Eulenberg den Rest ihrer Tage zu verbringen, erschlagen nach der Ankunft die Kutscher. Niemand aus der Reisegesellschaft dieser dunklen Regennacht kehrt je wieder vom Eulenberg zurück. Aus Tajus Gärten verschwindet ein Juwel für immer. Es schmerz und erleichtert ihn. Er wendet sich aus einem Märchen ab.

Vierzehn Tage sind vergangen seit Georg Paschke im Auftrag des Prinzen die gestürzte Königin malte, die noch in der Nacht nach der Vollendung des Bildes auf den Eulenberg gebracht wurde. Außerhalb der Geschichte die Reise in Irlands Südwesten. Reise nach Lisdoonvarna. Reise nach Achill Island. Reise nach Dublin.
Paul sitzt neben mir in der Launderette in der Curzon Street. Er lächelt ironisch: ist es das wert, fragt er, die Verdachte, du könntest stehengelassen werden für die Werte der Bildungsbürger, deine Resignation vor den Träumen der Körperlichkeit, dein kindlich trotziges Aufbäumen, wenn deine zarten Stimmen zerstört werden, deine sanfte Dankbarkeit an empfindlichen Erwartungen zerstiebt?

Am Horizont die Tempel der Feinheit, Leichtigkeit. Wolken. Ein wacher Blick hinüber, dem keine Worte folgen.

Paul lächelt den Frauen zu, die Leintücher zusammenfalten. Er sieht zu mir herüber: ich bin von ihrer Zärtlichkeit berührt, mit der sie es tun. Ihren sachten, geschwinden Bewegungen. Und ich möchte nicht, daß du das aufschreibst!

Ich schaue auf. Schon gut, sagt er, lass uns erst mal vor der Tür eine rauchen gehen.

Dann sitze ich wieder auf meinem weißen Plastikstuhl gleich neben der offenen, grünen Eingangstür der Lauderette. Der Prinz kommt die Straße herauf und tritt zu Paul. Er sagt: ich beneide diese Menschen um ihr einfaches Leben. Und könnte es doch nicht mit ihnen teilen. Paul zwinkert mir zu.

Wolken und Steine. Das verlassene Dorf auf der Achill Insel. Der Weg hindurch zu den Torfwiesen am Pass zum Meer im Norden der Insel. Die Leintücher faltenden Frauen in der Launderette in der Curzon Street in Dublin.

Die Reise ist wie ein kurzer Besuch in Ashara.


Wieder zurück in Berlin trifft Paul Lisa. Dort in der Julisonne. Schweres Licht auf prallem Grün. Wenn es nur etwas, ein ganz kleines bisschen zärtlicher wäre, sagt Paul. Lisa lächelt: du sagst so etwas, wie ein verlorenes Kind. Das gefällt mir. Es ist so leicht. Und dann bist du doch wieder ganz schwer, wenn es an die Wirklichkeit kommt. Paul sieht sie an. Ich komme aus einem schweren Land, Madame, sagt er. Ich kann das Schöne sehen, aber ich kann es nicht besuchen. Lisa schüttelt den Kopf: deine Augen sind aber wieder etwas leuchtender geworden in Irland. Das macht das Licht dort, sagt Paul, die Himmel. Und sicher auch der Umstand, daß ich dort mein Geld nicht verdienen muss. Sie lachen. 
Aber, sagt Paul, bitte mach kein Kind aus mir. Eine gewisse Kindlichkeit, die mir ab und zu recht vorteilhaft zu Gesicht stehen mag und die ich nicht ableugne, macht mich noch lange nicht zum Kind, das nicht erwachsen werden will. Und sprich nicht von meiner Schwere, als sei sie ein unheimlicher Schatten auf meinem schönen, kindlichen Lächeln. Es ist nur Wahres, Geschehenes, was da durchbricht. Ich hatte eine Liebesbeziehung zu dir und sie ist vorüber, gut. Aber ich bin jetzt nicht dein lieber, traurigsüßer Kavalier aus einem zauberhaften Damals.
Lisa erschrickt über Pauls plötzlichen Ernst. Paul sieht es.
Er spricht ruhiger. Weißt du, sagt er, es ist mir etwas unheimlich, was die Wörter mit uns angestellt haben. Sie haben uns lange Schönheit vorgespielt, wo nichts war als eine vergebliche Liebe. Wenn ich aber heute in mich hineinhorche, spricht mir keine süße Stimme mehr von Lisa, meiner kleinen Prinzessin. Ich höre vielmehr noch Karls Worte deutlich, die er am Telefon zu mir sagte, als er mir eure Wohnung verbot. Gute, klare Worte, die unbedingter anzuerkennen waren, als unser ganzes verliebtes Gesäusel. Denn sie hatten Gewicht. Ein gutes Gewicht, das ganze Gewicht eines menschlichen Daseins und seiner angeschlagenen Würde, oder nicht?

Lisa sieht Paul schweigend ins Gesicht. Du willst also sagen, daß dir nach dem Ende unseres damaligen Spiels kein neues Spiel mehr zusagt. Ist denn heute keine vorsichtigere Zärtlichkeit zwischen uns möglich als die, die damals zwischen uns war? 
Paul überlegt. Nein, sagt er, dazu bin ich zu einsam. Oder nenn es: ohne Frau, ohne erlebte Zärtlichkeit. Früher wäre es egal gewesen. Viel Zeit lag noch vor uns, vor mir. Als ich allmählich begriff, daß ich Hannah verlieren würde, weil ich ihr als ihr Hofnarr nur Angst machte, war das nur ein Lächeln wert. Ein Verzicht kostet nichts, wenn die Welt voller Möglichkeiten erscheint. Das ist heute anders. Ich weiß, daß ich kaum mehr an eine Liebe geraten werde, nur noch an Bedürfnisse. Und um die wird hart gefeilscht, von allen. Da gibt es keine Leichtigkeiten mehr, das ist ein ernstes Geschäft. Da werden die Worte schwer und man kann sich auf sie verlassen, so viel Gewicht tragen sie. Wie Karls Worte am Telefon. Da grinst nicht einmal mehr so ein Narr wie ich.
Lisa nickt lächelnd. Sie versteht. Es ist befreiend, weißt du, sagt sie, solche Worte von dir zu hören. Ich glaubte immer, daß du mir meine Entscheidung für Karl nie verzeihen würdest. Paul lächelt. Ich werde sie nur meinem Schicksal nie verzeihen, sagt er still.
Lisa sieht ihn still und fest an.

Ich weiß, sagt er, für mein Schicksal kannst du nichts. Doch ich habe es satt, dein Exliebhaber zu sein, der dich amüsiert. Es ist ein Verbrechen an der wilden, kopflosen Leidenschaft, die uns verbunden hat. Bald sind wir so weit, daß wir uns in einem Mövenpick unterm Sonnenschirm in der Fußgängerzone auf einen Eisbecher verabreden können. Unsere Treffen geraten allmählich in die Nähe des braven, wohlgesitteten Ekligen, so manieriert finden wir uns mit dem Gegebenen ab. Ich lehne es aber entschieden ab, von van Ackeren verfilmt zu werden. Verstehst du, was ich sagen will?

Lisa verstand vielleicht nicht. Paul erfuhr es nicht mehr. Sie hatte geschwiegen. Nachdem er ihr ein zusammengefaltetes Blatt Papier zum Lesen in einem ruhigeren Moment gegeben hatte, hatte sie ihm einen stummen Kuss auf die Wange nahe seines Ohrs gegeben und war fortgegangen. Sie hatte sich darauf nicht mehr bei ihm gemeldet, und so wusste er nicht, ob er sie erschreckt hatte oder ob er zu ihrem Idioten geworden war.

Später kam ihm die Furcht, er habe sie vielleicht gekränkt, ohne es zu wollen. Er begriff, daß er sie verloren hatte, endgültig verloren. Als ihre Liebe an ihr Ende gekommen war, hatte er nicht eine Liebschaft gegen eine Freundschaft eingetauscht. Es gibt keinen solchen Tausch. Eine Liebe die zu Ende ist, ist auf immer zu Ende. Alles was danach kommt ist Teil eines anderen Seins. Er hatte Lisa verloren. Die Prinzessin, die Spielerin, die nebelleichte, wolkenschwere. Er war nun nur bekannt mit einer klugen, jungen Frau. Einer Bekannten, mit der er eine Geschichte hatte, mehr nicht.

Unter dem Eindruck dieses Verlusts konnte sich Paul lange nicht entschließen, sich wieder bei Lisa, der neuen Fremden, zu melden. So vergingen Wochen. Auch Lisa meldete sich nicht. Davon wiederum war Paul tief gekränkt. Lisa schien sich von ihm zurückgezogen zu haben. Er schrieb ihr Postkarten. Sie blieben unbeantwortet. Er wagte nicht, sie anzurufen. Ihre Stimme hätte ihn ans Weinen gebracht. Er hatte auch Angst, Lisa könne ihm sehr dumme Dinge sagen, die seine Liebe zu ihr beleidigen würden. Er wurde sehr mutlos an ihrem Fehlen.

Zuletzt ging er wieder begegnungslos durch die Straßen. Wie vor einer langen Zeit. Vor der Zeit mit Lisa. Und doch bleierner, denn da war eine Zeit mit Lisa verloren. Es gab keine Linderung dieses Verlusts. Die Zeit, die verging, machte diesen Verlust nicht schwächer. Sie machte ihn nur länger, tonlos, grau. Paul sprach kaum mehr ein Wort aus seinem Herzen mit einem Menschen. Er war ohne Begegnung. Ohne Begegnung zu sein heißt, daß es keinen mehr gibt, der noch nach einem fragt. Die Welt öffnete einen großen, dunklen Schlund und tat einen großen Atemzug von langer, dünner Zeit, die sich zwischen dem Leben mit Lisa und dem Leben ohne sie ausbreitete. Paul bewegte sich unsicher in dieser dünnen Zeit hin, wie in einem giftigen Nebel. Alle Zartheit schien von ihm gewichen zu sein und er sprach keine leichten Worte mehr. Das Licht des Sommers wurde ihm leer daran. 

Endlich kam der Herbst. Pauls liebste Jahreszeit und Rettung.


Groteske

Sprichst du mit mir, Taju, in diesem Meer aus Stimmen, das von einer Welt schreit, die ich verlassen habe, und ich wusste wofür.

Atmete alte Luft aus einem Zeitalter, bevor uns die Jagd und das Lauern weggenommen wurden, als die Äste noch sprachen und die Flugbahnen der Fledermäuse am Abend eine eigene Geschichte in die Abendluft schrieben. 

Sprich zu mir Schwester, dieses weggeworfene Leben, deine sezierende Logik gegen das Dasein, ich hör dir still zu, doch ich werd dir nicht zustimmen.

Das Lächeln der Kinder zeichnet es manchmal noch leicht, dann für immer verloren an das Vorlaute dieser Zeit, ach meine Cafes, der laue Südstern Platz, Heimat in Jahren gezählt, nicht an Orten bemessen. Hügel und Blicke, die zogen an meiner Seele, so sag ich es hin, denn ich sprech die Sprachen dieser letzten Welt nicht.

Im Vorzimmer des Grauens, das mich über die Horizonte trieb, flirrt leicht eine alte Sehnsucht wieder, der so viele Opfer gebracht wurden, daß mir das Grausen kommt.

Und hör ich die lieben Stimmen plötzlich im Geschrei, dann erschrecke ich süß. Dort, hört nur, es gibt ihn, den leichten, sanften Gesang der Menschen, die einmal als schöne Geschöpfe einer Erschaffung auf diesem Planeten auftauchten. Und lernten neben ihren Grausamkeiten das Schöne, Fragende in dieses merkwürdige Dasein zu schreiben. Und wenige hatten ein Herz, es zu bewahren. Ihre Stimmen hör ich dankbar, an Telefonen, an Tischen, in Zimmern und heut und hier, zarter Gesang der mir das Leben schenkt, nach dem zu suchen ich
aufbrach aus dem Geschrei meiner Zeit.

Und tänzel die Strass' hinunter, pfeif meine Melodie, bis es mich packt, kalt und ohne Erbarmen. Ein Wahnsinn aus Tod und Verlieren, der knöchern zulangt, ins arme, bebende Fleisch, das vorüber ist, gezählt seine Minuten, sein kurzes Aufflackern zwischen den Galaxien, ein Lächeln ist das immer wert, oder ein kurzes, herzhaftes Lachen, wie um nichts.


Lisa fand Pauls zusammengefaltetes Blatt Papier nach Tagen in ihrer Manteltasche. Sie entfaltete es und las es. Sie war gerade vom Einkaufen zurück und die Worte gingen durch ihren Kopf ohne sie wirklich zu erreichen. Sie legte das Blatt auf einen Stapel Papiere und Zeitungen, um es in einem ruhigen Moment zu lesen. Dieser ruhige Moment kam nicht, lange nicht, denn unser Alltag meint es oft nicht gut mit uns. Sie stieß lange nicht mehr auf Pauls Papier bis sie es schließlich vergessen hatte. So wurde es Geschichte bevor es wirklich wahrgenommen war. 

Lisas Leben atmete Paul einfach aus. Ein tiefer, sorgenvoller, doch auch befreiender Atemzug. Wie wir eine Traurigkeit durch einen tiefen Seufzer der Zeit übergeben. Danach erschien ihr ihr Leben ruhiger und gleichmäßiger. Die emotionalen Ausbrüche, die Höhepunkte im ruhigen Fluss gewesen waren, hatten sie sehr ermüdet und waren ungewollte Ohrfeigen für Karl gewesen, den sie unendlich schätzte. Karl gab ihr wortlos zu verstehen, daß er ihren Verzicht auf den Liebhaber mit dankbarer Hochachtung begrüßte. Er blieb sehr diskret, er wollte Lisa nicht verletzen. Lisa war ihm dankbar dafür, denn sie wollte Paul vergessen, den Paul, der er zuletzt gewesen war, ihr Liebhaber, Freund und Spielgefährte. Sie wollte sich ihm erst wieder zuwenden, wenn es möglich wäre, daß er ein guter Freund sein könnte. Ein neuer Paul, ein völlig anderer, einer, den sie noch nicht kannte.

Nach Monaten entdeckte sie zufällig Pauls Papier. Sie las es, ließ die Hand sinken und hatte ein unbewusstes Lächeln auf ihrem Gesicht, wie ein Kind, dem ein altes Märchen erzählt worden ist und es weiß, daß es keine Prinzen gibt, keine Prinzessinnen, keine Königreiche, und doch spricht das Märchen einen Bezirk in ihm an, den nichts sonst anzusprechen versteht und der uns glücklich und verloren für die wirkliche Welt macht.

Ihre Begegnung mit Paul war ein solches Märchen gewesen, eine fröhliche Geschichte, die es nicht gibt, nach der wir uns aber immerzu sehnen werden, die wir immer wieder in der Wirklichkeit zu leben versuchen werden, auch wenn unsere Versuche unbeholfen, kurzlebig und auch ein wenig lächerlich sein werden. Wir tun es, um dem kleinen Zauber der Kinderzeit hinterherzuspüren, den wir verloren haben und nicht wiederfinden werden. Ein Zauber, der in Märchen beschrieben ist, der in einem unerwarteten Lächeln auf der Straße zu uns kommen kann, in irgendeiner überraschenden Freundlichkeit, die uns zuteil wird, denn wir erwarten nichts Leichtes, Bedingungsloses mehr von diesem Leben. Wir sind Entzauberte, gehen schwer auf hartem Grund und tragen eine merkwürdige Sehnsucht nach dem leichten Glück in uns, das uns verleitet, dieses Glück in schrecklich kitschigen Liebesfilmen und schlechten Romanen zu suchen, die allesamt sehr lächerlich sind, doch wir selbst sind es nicht. Wir haben nur eine Sehnsucht nach einem verlorenen Glück in uns.

Dies alles stand auf Lisas Gesicht, nachdem sie Pauls Papierchen gelesen hatte. Sie glättete es und hing es an die Wand in ihrem Zimmer, gleich beim Fenster, wo es eben hingehörte, direkt in die Nachbarschaft ihrer Blicke nach draußen.



Deine Farben, Zauberstein, dein
Lächeln, frech, Prinzessin in den Gärten, ein
Windzug durch helle Gräser und
vorbei

Das sag ich keinem, wenn nicht dir
versprochen, heilig, ungebrochen,
der lachende Gedanke
stiehlt sich in mein Zimmer

und seh das Abendlicht alleine glitzern
in den Blättern vor der Ebene
von Wolken überworfen, Blau

ein kleiner Schritt in altem Wald
(und leicht geatmet des Herrn Kafkas
Niederschriften
Wort für Wort Verzweiflung und
doch Faden, den das Jahrhundert
verlor
um nur noch blöd zu grinsen)

das ist dir nichts; du
fährst mit deinen Farben hin und 
bringst dein Lächeln morgen mit
als lächelte die Welt

ich dank den Göttern für die letzte Kusshand,
die ein Mädel ihrem Burschen zuwarf auf
die Mauern des untergehenden Karthago

das scheue Rot auf den Wangen des
verliebten Backfischs im Salon der
hineilenden Titanic

die Umarmung am Morgen des
sechsten August
in Hiroshima


Paul traf in den langen Wochen nach seinem letzten Treffen mit Lisa zufällig Hannah auf der Straße. Sie tranken einen Kaffee zusammen. Hannah berichtete, sie habe sich von Maurice getrennt. Sie habe ihn im Verdacht, eine Affäre mit Lisa zu haben. Maurice habe es abgestritten. Paul erschrak, als er Lisas Name hörte. Hannah sah es. Vielleicht sahen sie sich deshalb so aschfahl in die Augen und blieben unberührt von den Meeren ihrer alten Zuneigung. Sie trennten sich ohne Umarmung, ohne Zukunft.

Paul zuhause. Stift über Papier. Paul wartet tonlos. Zuletzt hat sich selbst diese Faszination totgelaufen. Er ist ein einsamer Zuschauer seines Welkens geworden. Seine Geschichten verblühen, die Worte werden zu hohlen Geräuschen, die ihn langweilen. Seine Gefühle halten sich vor ihm versteckt als misstrauten sie ihm. Er braust auf, er fällt in tiefe, richtungslose Traurigkeit aus der er erwacht, in eine Wut über seine Unfähigkeit, Inhalte zu finden. Er ist müde und sehnt sich nach klarer Wachheit. Nach ein paar Sätzen zerreißt er das Blatt.

Seine Spaziergänge mit dem Idioten sind zu wenig unterhaltsamen Pflichtübungen vertrocknet. Er hatte es bemerkt als er sich plötzlich darüber ärgerte, keine Tonbandaufzeichnungen seiner langen Gespräche mit dem Idioten angefertigt zu haben und er wusste, daß er sich in wenigen Jahren nicht mehr an deren Inhalte erinnern würde. Die bezaubernde Wirkung dieser Gespräche, die Paul in eine andere Wirklichkeit gehoben hatten, war verblasst. Die Wirrungen in den Worten des Idioten stellten sich Paul allmählich als die hintergrundslosen Äußerungen eines verlorenen Säurekopfs dar, der die Welt abgelegt hatte und mit einer eigensinnigen Sturheit in dieser Isolation verharrte. Während Paul zunächst noch versucht hatte, das anziehend Merkwürdige der Welt in des Idioten Phantastereien zu sehen, verlor sich dieser immer mehr in mechanischer Wiederholung starrer Vorstellungen, an denen er trotzig festhielt wie ein bockiges Kind, das nur eine Wahrheit kennt. Paul musste erkennen, daß er im Idioten einen Paradiesvogel in einer armseligen Welt hatte sehen wollen, doch in Wirklichkeit war der Idiot vielleicht nur ein verstaubtes Inventar, eine etwas muffig gewordene Puppe, die in einer unfreundlichen Umgebung ohne Leichtigkeit stur ihre Wahrheiten wiederholte. Nahm man ihn nicht ernst, so wurde er aufsässig wie ein Kind, unter dessen eigensinniger Diktatur die Erwachsenen zu Stallknechten degradiert werden. Kinder und Alte, so dachte Paul, sind uneinsichtig und schwerfällig. Nur zwischen Kindheit und Alter geschieht die Poesie eines Lebens, der leichte Tanz des flüchtig Möglichen, die vorläufigen Wahrheiten, die einem entschlüpfen oder an ihrer Schwere zum Fluch werden. Kinder nehmen daran jedoch noch nicht und Alte nicht mehr teil. Nur die Romantiker, die sich nach einem Leben sehnen das ihre eigene Wirklichkeit überflügelt sehen Poesie in Kinder und Alte hinein.

Paul entschließt sich, wieder konzentrierter zu arbeiten. Er beginnt eine neue Chronik des Asharakiden. Wenn er es nicht mehr sagen kann, so soll es Taju sagen. Die Schwere der Welt ist so oft nur mit einem Spiel zu durchbrechen. Mit dem sinnlosen Blabla einer Marotte, einer lächerlichen Anwandlung.


Trocken dein Herz und zu Ende dein Weg

Das Schweigen der Paläste

Nach einer Nacht in der er bis drei Uhr früh ohne Pause an der Zweiten Chronik des Asharakiden gearbeitet hat, erwacht Paul am Vormittag. Trübgraues Licht fällt langsam in seine stille, leere Wohnung. Kein belebter Laut dringt an sein Ohr und Paul bleibt liegen. Etwas das er eigentlich nicht mag. Er möchte so nicht in den Tag, nichts und niemand erwartet ihn. Kein Lächeln zwischen den Wänden. Paul erinnert sich an die Stimmen der Geschwister am Morgen wenn er in seiner Kindheit erwachte. Er horcht traurig in die Stille des fremden Hauses, in dem er lebt. Er steht auf und setzt sich an seinen Schreibtisch.

Der Prinz Taju führt ihn in einen Raum seines Palastes. An einer der Wände ist das Gemälde Georg Paschkes aufgehängt, das die gefangene Königin Baghra zeigt. Die beiden Männer betrachten es lange stumm. Dann sagt Paul: Sie bedeutet euch noch viel, nicht wahr?

Taju antwortet: Wir trafen uns zum ersten Mal als die souveränen Herrscher unserer zweier Königreiche. Die Verhältnisse in Ashara lagen im Argen und verschlissen meine Kräfte. Als Baghra mir begegnet war, schöpfte ich Hoffnung in meiner Einsamkeit. Denn unsere Herzen schlagen gleich schnell. Doch sie sah mich nicht als Verbündeten. Sie wollte an mir nur ihren Besitz mehren. Doch das ahnte ich damals noch nicht. Nachdem wir Worte und Geschenke ausgetauscht hatten wurde unsere Korrespondenz jedoch schnell Tagesgeschäft. Ich habe es sofort bemerkt, doch meine Sehnsucht nach einer verbündeten Seele war stärker, und Baghra spielte mit meiner Sehnsucht. Auch das ahnte ich, doch begegnete ich ihr mit Nachsicht. Ich wusste, welch einen harten, aussichtslosen Kampf sie in ihrem kleinen Königreich führte, in dem ihre Stellung alles andere als gesichert war. Sie spielte ein gefährliches Spiel, war auf einer Gratwanderung zwischen ihrem Machthunger und ihren Widersachern. Sie war so ausgehungert nach Erfolg, den sie mit meiner Hilfe zu ereichen hoffte. Ich hingegen hoffte, sie würde eines Tages die Eitelkeit aller weltlichen Macht erkennen und sich doch noch als Vertraute erweisen. Doch eine Audienz in meinem Palast, zu der ich sie bat, ertrank in einem Gelage unserer Höflinge. Mein Angebot, unsere Herzen voreinander zu öffnen, nahm sie nicht an. Wir trennten uns ohne Annäherung.
Bevor ich erneut mit ihr verhandeln konnte brach ihr kleines Reich zusammen, liefen ihre zerlumpten, kopflosen Armeen in meine Lanzenreiter. So wurde Sie die Gefangene Asharas. Meine Gefangene. 

Nun bleibt mir nichts. Denn der Zauber unsrer Begegnung ist längst verloren und ich werde ihn nie wieder erreichen. Ach, diese Begegnung. So flüchtig und leicht waren unsere ersten Worte, Worte zweier Gejagter, zu schnell unsere Worte für unsere Verfolger. Sie schufen einen hellen Leib, der wir beide waren, einander zugekehrt, und hinter uns versank das uns Umgebende in bedeutungsloser Nebensächlichkeit und war nur Kulisse für unsere Begegnung. Doch bald drängten sich in unsere Tausendundeinenacht Kinderwahrheiten und Unsicherheiten. Die Feigheit zweier Herzen, aus der scheinbaren Sicherheit ihrer Existenzen einfach gerade aufeinander zuzugehen. Unsere allzu vorsichtigen Worte warfen schon ihre Schatten auf Baghras späteren Verrat voraus. Es scheint mir heute, als hätten wir die Geometrie einer Liebe durcheilt, bevor sie beginnen konnte. Unser vorsichtiges Lächeln wurde zum Gähnen der zu lang gewordenen Gespräche, die bis zum ersten Tageslicht andauerten. Als wir uns schließlich trennten, waren wir nichts als zwei Staatsleute nach langen, ergebnislosen Verhandlungen, im entlarvenden Licht meiner Palastgärten, am Beginn eines ungesunden, folgenden Tages, der an der Erwartung einer Entscheidung krank geworden war, die ich doch selbst nicht näher hätte ausmalen können.

Taju blickt traurig auf das Gemälde.

Baghra würde sicherlich lachen, wenn sie wüsste, wie ich hier in diesem Raum des Palast vor ihrem Bild spreche. Ich weiß, sie würde es nicht verstehen. Es ist nur meine Geschichte, die es so wollte. Denn ich weiß nichts darüber wer sie ist. Der helle Leib der wir waren zeigte mir nur meine eigenen Dunkelheiten.

Er verstummt. Dann wendet er sich wieder Paul zu.

Wie einsam und leer der Palast ist. Wohin ich mich wende sehe ich in die hysterischen Blicke der Leute und bin haltlos und hungrig nach Freundlichkeiten, die es für mich nicht mehr gibt. Ich muss mich neu fassen, die falschen Freundlichkeiten zurückweisen, zu denen ich zu haben war. Träumer, Narr, der dieses Ashara verschenkt. So denken doch meine Generäle über mich. Die Feinheit, die ich über die Katastrophe des Untergangs von Baghras Armeen verloren habe werde ich nur im Schreiben wiederfinden, in der Musik, in Briefen von meiner Hand. Doch ich muss, so seltsam das klingt nachdem sie meine Gefangene geworden ist, erst jetzt Baghra überleben. Der Krieg gegen sie war kalkulierbar und er war zu gewinnen. Jetzt, da die Bedrohung die ihre Armeen für Ashara bedeuteten, beseitigt ist, muss ich meine Milde gegen sie meinen Generälen gegenüber verteidigen. Sie werden unruhig und im Palast raunt man von Rebellion. Doch wenn ich den Kopf hebe kann ich spüren, daß nicht alles verloren ist. Meine Offenheit brauche ich nicht zu fürchten, und noch bin ich nicht Spielball der Bedeutungslosen. Ich muss nur wieder lernen, über sie alle hinwegzusehen, die mich mit ihrer kleinlichen Wichtigtuerei und hysterischen Angst ärgern.

Er tritt wieder vor Baghras Bild.

Entweder zwei getrennte, verbündete Reiche oder eine gemeinsame Intrige gegen unsere Generäle. Das war ihre Bedingung, die eine Beziehung zwischen uns ausschloss, in der beides möglich ist. Waren wir zu diesem Spiel nicht fähig? Jetzt sind wir durch Sieg und Niederlage auf immer getrennt. Das ist sicher. Hat sie das gewollt? Der Tod sollte uns nicht haben. Doch wird uns deshalb das Leben holen? Ich bin verwirrt, denn sie hätte ja nur ihre Hände auszustrecken brauchen. Ahnte sie, daß der Tod schon ein wenig seine Hände nach mir ausgestreckt hatte? Hatte sie Bedenken, sich zu augenscheinlich mit mir zu verbünden, einem Prinzen, der mit dem Rücken zur Wand steht? Ich beginne die Gefühle zu vergessen, die durch meinen Leib bebten, als wir als zwei Gehetzte voreinander standen. Ich muss sie vergessen. Draußen wartet ein unruhiges Ashara, regiert zu werden und Baghra ist besiegt. Die äußere Bedrohung ist abgewendet, nun will ich die innere angehen.

Zu Paul sagt er: Meine Geschichte mit Baghra ist nun in jenem Gemälde gebannt. Ich werde Herrn Paschke für immer dankbar dafür sein. Nur die Kunst vermag es, Geschichte zuletzt Geschichte sein zu lassen. Weil sie alles Menschliche in Formen verewigt und so vor dem Vergessen bewahrt.
Paul sagt: Vielleicht braucht Ihr nur etwas Ruhe, Prinz. Der Krieg hat euch ausgebrannt. Ihr wart immer einsam, vor und nach Eurer Begegnung mit Baghra. Was solltet ihr verloren haben an ihr? Ihr habt Ashara gegen sie verteidigt, es ist Ashara von Baghra kein nennenswerter Schaden zugefügt worden. Eure Stellung gegenüber Euren Generälen ist gefestigt durch diesen Sieg.

Taju sieht ihn an: vor meiner Begegnung mit Baghra war es leichter einsam zu sein und Ashara zu regieren, als es jetzt noch möglich ist. In der Begegnung mit Baghra fand und verlor ich die Möglichkeit, meine Einsamkeit mit jemandem zu teilen. Ich weiß, daß sie weiter bestanden hätte, doch hätte ich in der Welt einen Gegenspieler gehabt. Und Gegenspieler sind auch Mitspieler, je nachdem, welchen Blick man auf sie wirft, nicht wahr? Wart nicht Ihr es, der mir vom Weltspiel sprach? Das Regieren, mein Lieber, ist in der Tat ein verrücktes Spiel und es war ein allzu köstlicher Gedanke, es mit jemandem zusammen zu spielen. Ihr seid lediglich ein Besucher meines Palastes. Euer Spiel ist Euer Besuch. Mein Spiel ist, Asharakide zu sein. Wir können nicht miteinander spielen. Wir spielen jeder sein Spiel, nebeneinander her.

Paul nickt.
Ich weiß, was ihr meint, Prinz. Ich hab vor nicht allzu langer Zeit eine Mitspielerin in meinem Weltspiel verloren. Aus unserem Spiel war eine Liebe geworden und sie zerriss die Leichtigkeit unseres Spiels. Jetzt ist es dahin und die Leere danach ist unendlich groß. Eine Leere, die nicht aus der Enttäuschung allein kommt, einen Menschen verloren zu haben, sondern einen Mitspieler.

Nicht wahr, sagt Taju, die Leere nach einem Spiel ist so anders als die Leere nach dem Verlust eines lieben Menschen. Und doch ist sie wie Blei. Verliert man einen Menschen, so kann in der Trauer doch noch eine Leichtigkeit erhalten bleiben. Verliert man aber den Mitspieler und ist das Spiel dahin, so ist die Leichtigkeit der Welt verloren.

Paul lächelt. Er lächelt ein Lächeln, das nur die Einsamkeit hervorbringen kann. Ein Mensch in einer Liebe kann nicht so lächeln. Er muss fest daran glauben, daß seine Liebe seine Einsamkeit aufhebt. Er weiß nichts von seiner Einsamkeit. Er lächelt für seinen Glauben an eine Verbindung, die die Einsamkeit verscheucht. Pauls Einsamkeit ist durch nichts zu verscheuchen. Er bleibt einsam, selbst wenn er liebt.

Er fragt sich, ob er wirklich imstande ist, zu lieben. Alles kann man verlieren, er weiß es. Auch die Liebe eines Menschen. Menschen drehen sich um, einige Zeit vergeht und plötzlich ist es eine andere Welt. Gefühle ändern sich, sagen die Leut, sie vergehen. Paul denkt, daß die Liebe im tiefsten Grunde kein Gefühl ist. Sie ist Bedeutung die bleibt, sagt er. Ein Wissen um das, was bei einem bleibt. Menschen bleiben nicht bei einem. Nur manchmal und mehr aus Gewohnheit. Was bei einem bleibt sind die Rührungen vor dem Dasein. Es kann die Rührung angesichts des Daseins eines anderen sein. Dann liebt man diesen anderen. Lächelt man aufgrund dieser Rührung, so ist es ein Lächeln der eigenen Einsamkeit vor der des anderen. Kein Lächeln, das die Einsamkeiten aufzuheben versucht. Denn dieses Lächeln drückt sozusagen ihre Vorhandenheit aus.

Was ist dies nur für ein eigenartiges, einsames Leben, sagt Paul. Taju blickt zu ihm herüber. Die Mitspielerin die Ihr verloren habt, fragt er, werdet Ihr sie wiedersehen?

Ich werde sie wiedersehen. Ich habe hier mit Euch bemerkt, daß ich es will. Ich war dumm und hatte sie an mein Bedürfnis nach einer Liebe verloren. Das bedeutete, daß ich sie ganz verloren hatte. Ziemlich blöde, im Grunde.

Taju lächelt. Vielleicht habt Ihr recht. Es blöde zu nennen. Baghra ist ja nicht aus der Welt, ich bräuchte sie nur in ihrem Palast auf dem Eulenberg aufzusuchen. Er lacht. Was habe ich nur von ihr gewollt. Dass sie meine Einsamkeit auslöscht? Hahaha.

Paul lacht aus vollem Herzen mit.


Das stille Lächeln

Paul ruft Hannah an. Sag mal, sagt er, du hattest mir doch erzählt, daß du dich von Maurice getrennt hast, weil du ihn verdächtigst, eine Affäre mit Lisa zu haben? Seid ihr noch immer getrennt und wie ist das jetzt mit Lisa? Hannah lacht. Frag sie das doch selbst, Paul. Und mit Maurice bin ich wieder zusammen. Das hört sich gut an, sagt Paul. Vernünftig. Und von wegen Lisa selbst fragen: um die Wahrheit zu sagen, ich hab Angst, sie einfach so anzurufen. Ich habe sie lange nicht mehr gesehen. Sie beantwortet meine Postkarten nicht. Wenn sie hart zu mir ist, würde mir das wehtun.
Soso, sagt Hannah. Also hör mal, wenn sie hart zu dir ist, dann wird sie sicher ihre Gründe dafür haben, mein Lieber. Danke, sagt Paul, du hast mir schon geholfen. Bis bald mal, auf einen Kaffee mit deinem Herzbuben.

Er wählt Lisas Nummer. 
Lisa? Paul.
Oh, der verlorene Sohn. Das ist eine Überraschung. Ich hatte lang auf deinen Anruf gewartet.
So? Nun gut, mein letzter Auftritt war ja auch ein Abwinker. Ich bin aber wieder auf Deck. Endlich wieder trocken. Es tut mir leid, aber ich brauchte meine Zeit. Schließlich konnte ich ja nicht in Karls warme Arme fliehen.
Ich weiß, sagt Lisa. Deshalb habe ich ja gewartet. Hab Dank für deine Karten. Die haben mir das Warten nicht eben leichter gemacht.
Dummer alter Trappertrick: die Mitleidskärtchen, damit sich das Schlamassel hinzieht. Verzeih. Kann ich dich sehen?
Sie vereinbaren ein Treffen. Nachdem er aufgelegt hat schüttelt Paul den Kopf. Wie leicht alles sein kann.

Lisa küsst Paul auf die Wange zur Begrüßung. Sie erkundigt sich zuerst nach dem Idioten.
Er ist in einem Pflegeheim, erzählt Paul. Ich habe ihn zu Anfang noch oft besucht, jetzt wird es immer seltener. Er ist dort sehr aus der Welt und wird seltsam. Weil ich nicht wusste, was ich mit ihm reden soll habe ich ihm von meiner Asharageschichte erzählt. Er nimmt die Geschichte sehr ernst und erkundigt sich nach den Vorkommnissen dort. Als ich ihn darauf hinweisen wollte, daß es doch nur eine Geschichte ist, wurde er beinah böse, als wolle ich ihm etwas wegnehmen.

Lisa lächelt. Das tust du dann wahrscheinlich auch. Es ist doch gut, wenn er sich in dieser Geschichte wohl fühlen kann. Paul denkt nach. Ja, sagt er, du hast wohl recht. Ich fühl mich in dieser Geschichte ja auch wohl.
Und außerhalb Asharas, wie geht es da voran?
Eher schleppend. Ich habe Hannah nur einmal gesehen, und die Begegnung war eher von meiner Trennung von dir und ihrem Verdacht, Maurice habe eine Affäre mit dir überschattet.
Maurice hat mir von diesem Verdacht erzählt, sagt Lisa. Er hätte sicher gerne eine solche Affäre gehabt. Ich fand ihn sehr charmant, ja, ich hatte ihn sehr gerne und war beinah dabei, mich in ihn zu verlieben. Doch ich wollte keine Affäre mit ihm. Darauf war sein Interesse an mir schnell erloschen. Hannah hat ihn dann ja sogar kurzfristig verlassen. Da war es dann sehr plötzlich aus mit seinen Besuchen bei mir. Doch erzähle erst von dir.

Paul zuckt mit den Schultern. Es gibt wenig zu erzählen. Ich geh umher und schau mir alles an. Ich hab nicht viel dazu zu sagen. Es hat mich ziemlich erschöpft, mich mit dir eingelassen zu haben und ich war ein enttäuschter Trottel danach. Vielleicht hätte ich es besser wissen müssen, aber ich bin da schwer auf mich hereingefallen. Ich hoffe, Karl hat alles gut überstanden und ist nicht bitter geworden.

Lisa blickt ihn an. Es war schwerer für ihn, als ich gedacht hätte. Doch die Zeit wischt vieles weg. Zuletzt hat er mich sogar bedauert, weil ich dich so völlig aus den Augen verloren hatte. Er freute sich, als ich ihm von deinem Anruf erzählt habe. Schuldgefühle.
Sie lachen.

Ihr Lachen, angenehme Melodie zwischen ihnen, ist einige Meter weiter weg bereits ein merkwürdiges Geräusch. Ein Meckern, ein gemeinsam ausgestoßenes Gebilde aus gebellten Tönen, ohne klare Bedeutung. Einen unbeteiligten Passanten könnte es wundern, vielleicht sogar befremden. Er mag im Vorübergehen kurz zu ihnen herübersehen, ohne Interesse an ihnen oder dem Grund für dieses Lachen, nur eben durch dieses Geräusch aufmerksam gemacht.

Um sie herum braust die Stadt. Autos eilen zwischen den Straßenrändern hin und heulen hysterisch. Menschen gehen ihrer Wege, ernst und unaufhaltsam. Die Bäume stehen unbeachtet und bewegen sich kaum. Sie können dem Jahr gelassen entgegensehen. Viel wird sich nicht ändern. Zwischen scheinbar kurzlebigen, aktuellen Ereignissen kriecht gemächlich eine große Zeit dahin, wellenlos, dünn, gleichgültig.

Über all dem steht ein unberührter Himmel. Weit darüber, viel zu weit. Nachts huscht ein Schatten über ihn, der unendlich tief ist und ohne Stimme. Dieser Schatten weiß vielleicht mehr über Paul, über seine tote Schwester und über den Idioten als irgendjemand wissen könnte. Ashara gibt es nicht. Es ist schade, aber es gibt dieses Ashara eben nicht.

Zum Abschied küsst Paul Lisa und ihr Leben wird weitergehen. Wir haben nur ein kurzes Stück daraus gezeigt, einen Augenblick, einen Atemzug. Wir haben selbst einige unserer Jahre in ihrer Geschichte erzählt und können sie nun ziehen lassen. Woher sie kamen wissen wir nicht. Wir werden auch nicht mehr erzählen, wohin sie gehen werden. Es ist schön und doch bedeutungslos unter den Sternen. Wir gehen ein paar mal schlafen, wachen auf und haben sie schon aus den Augen verloren. Manchmal, am Meer, wenn wir in die Brandung horchen, glauben wir sie rufen zu hören. Doch wir sind allein. Wir gehen durch die Dünen zum Haus zurück und sehnen uns nach einer Begegnung mit ihnen, doch sie werden nicht kommen.