PAUL. Erzählung. Band I.
E-VERLAG. BERLIN seit 1998. Verlagsnummer: 01P/20-02-95 (Seit etwa 1985). Erzählung: <Paul>. Band I.
MobilVerlag (¿.) Berlin 2008. 01Sep2009. ©Harald Settele
Denken Sie nur an, beispielsweise könnte einer tanzen, immer an der Schwelle des Gleichgewichtverlusts, gestoßen von einem Anblick, einem Begehren, einer unvermittelt loserzählenden schönen Vorstellung. Lachfalten müßte sein Gesicht zeigen, um die Augen und auf die Stirne gezogen, obwohl ein schmerzzugewandter Glanz in seinen Augen läge; auf den Wangen und um die Mundwinkel eine Feinheit geschnitten: die des Spielers.
Er begegnet Ihnen und sie wissen augenblicklich, daß Sie ihn nie erreichen werden. Sie stellen allenfalls den Zuschauer.
Sie könnten für einen Moment behaupten, in ihn verliebt zu sein. Doch dann überwürfe Sie der kalte Schatten der Erkenntnis eines Irrtums.
Sie haben eine Photographie von ihm erhalten, Sie schauen sie an und fühlen dieses kalthell Schneidende daraus aufsteigen. Er ist es nicht. Da lächelt Sie eine Mona Lisa an. Ein russischer Tänzer. Eine spanische Gräfin. Ein italienischer Schauspieler. Alle diese und doch nicht sie. Etwas in ihnen.
Sie sehen ihn, den Spieler, den Tänzer, auf der Straße. Sie folgen ihm, schauen aufs Pflaster: hier hat er getanzt, der Spitzbube, der Geck, der sich jedem ernsten Zugriff mit einem federleichten Schritt entzieht. Sie wenden sich beschähmt um und gehen ab. Er hat Sie gesehen. Sein Blick. Schmerzendster Hieb für den Nichterhörten.
Paul am Fenster. Da sind die Fassaden gegenüber, hinter die er nie geschaut hat. Bis auf einige Gebäude besteht die Stadt ja aus Fassaden. Da sind Autos die brummen. Rasende Käfer. Oben der Streifen Tageslicht, Wolkendecke, pünktlich erschienen nach der Meldung des Wetteramts. Paul hustet, nur um auch ein Geräusch zu machen im Geräuschbrei der Stadt. Grüßt euch, Idioten, sagt er gönnerhaft, läßt den Oberkörper nach vorn fallen, Hände auf den Sims. Paul ist verstimmt. Denkt an Hannah. An Maurice. Eine Liebesgeschichte. Lacht. Hannah und ihre Geschichten. Frauen betrügen einen immer, denkt Paul zärtlich, immer gibt es da einen den sie wirklich lieben und von dem sie nie losgekommen sind, während sie dich anlächeln, als wärst es du. Paul hat dieses Spiel satt. Und ist doch eifersüchtig auf Hannah und Maurice, muß ihrer Flitterwelt mit einer kleinen, gehässigen Verachtung begegnen, weil er das verloren hat was die beiden aneinander haben: die warme Schulter, an der man nachts einschläft, dieses auf Momente reduzierte Zuhause. Wissen, daß es doch Illusion ist und es trotzdem erhalten können, wie die beiden. Diese raffinierten kleinen Lügner, denkt Paul. Meine Hochachtung.
Paul geht spazieren. Im Park. Legt sich unter Bäume. Die er gern hat weil sie sich so sinnlos schön im Wind bewegen. Bewegung, derer es nicht bedarf. Die nur ist, weil der Wind durch die Blätter greift. Das sieht sich Paul gern stundenlang an. Die Leute die mit ihren Taschen im Lebensmittelgeschäft verschwinden langweilen ihn. Die gehn zu einem Zweck hinein. Der ist Paul bekannt, und schon ist es langweilig. Da sieht er lieber zu, wie einer halbminutenlang seine Jacke nicht anbekommt, weil der Wind sie ihm jedesmal vom suchenden, noch im Freien rudernden Arm fortbläst. Unschuldig wie ein Kind, denkt Paul. Lacht. Nicht schadenfroh. Belustigt.
Paul steht an der Straße, wartet. Die rasenden Käfer. Brummen sehr wichtig. Für Paul sind sie nichts als eine aufgeregte Insektenkaravane, deren Ende er abwartet, bis er endlich hinüber kann.
Paul hat keine Geschichten mehr mit Menschen. Schon lange nicht mehr. Er erfindet sich lieber selber Geschichten. Umarmt die Welt mit dem Kopf. Vielfalt, die ihn rührt. Die ihn fasziniert, ihm Fragen stellt. Diese vielen Bewegungen, ineinander verzahnt, gegeneinander laufend, Gleichklänge, Dissonanzen, Halt, der einem unter den Fingern zerbröselt, Schwindel der vielen Wahrheiten. Paul ist ein Haltloser, der in der stetigen Haltlosigkeit seinen Halt hat. Im Schwindel. Baumwipfel, die im Wind rollen, gegeneinander. Das betrachtet er, bis er sich wundert, daß er auf einem ebenen Boden darunter noch hinschreiten kann. Dieses Wundern liebt er. Warum soll ich traurig sein, ich bin ja bei mir, sagt sich Paul.
Vorhandensein, das ihn froh stimmt, durch alle Schmerzen und Demütigungen hindurch. Das ihn nicht losläßt. Man ist nicht wichtig, aber man ist einer, denkt Paul.
Paul erwartet nicht, daß er angenommen wird. Wer soll ihm die Hand schütteln und allen Ernstes behaupten, daß er ausgerechnet gerade auf ihn, Paul, gewartet hat. Jeder erwartet irgendeinen, der seine Bedürfnisse erfüllt. Da könnten viele herhalten. Bis ein Geeigneterer kommt. Dann fällt der vormals angeblich so lang Erwartete schnell durch. Wird fallengelassen. Dann hat man sich halt getäuscht. Es gab doch einen Besseren. Da wird sogar die größte und ewigste Liebe plötzlich zur infantilen Episode erklärt. Ach so, würde Paul dann nur sagen und gehn. So sind die Leut.
Wenn Paul alleine ist, spricht ihm manchmal eine Stimme.Und er läßt sie erzählen: von einem Ameisenvolk, das bei einer Landstraßenüberquerung ein Sechstel seines Bestandes an vier extrasichere Regensportreifen mit dem Antiaquaplaningprofil verliert. Was soll man tun? Die Ameisen, emsig, bauen jenseits der Landstraße einen Hügel. Die Königin legt wie verrückt. Der Hinterleib schwillt ihr wund von so viel Zukunftssorge. Bald ist der Verlust ausgeglichen. Ja, es stellt sich heraus, daß der Stock überfüllt ist und die Abspaltung eines Teil Volks an der Zeit wäre. Zwei dutzend Jungköniginnen und einige hundert Drohnen starten einen Besamungsrundflug. Da regnet es sauer. Und alle sterben. Die Stimme weiß nun auch nicht mehr weiter. Paul lacht.
Ein leichter Wind geht in den Straßen. Paul hat sich ihm anvertraut, ein sprachloses Vertrauen, eine stille Intimität. Leicht geht er hin, ziellos, ohne es zu wissen. Die Bilder die er sieht bilden keine Worte in ihm, er ist federleicht. Ein Lächeln gleitet mit ihm. Und eine süße Traurigkeit. All das nicht umfassen zu können. Was er sieht, was er hört, was er ahnt.
Paul trifft den Idioten an einer Kreuzung. Wer weiß, welche Richtung er gewählt hätte, denn der Idiot bittet ihn höflich in eine Gaststätte an einer der Straßenecken. Er habe da eine Frage. Oder eine Mitteilung. Paul solle sich nur anhören. Paul nimmt an. Er mag die Freundlichkeit des Idioten gern. Der Idiot will schon beginnen, doch Paul bestellt erst noch. Er möchte nachher beim Zuhören nicht unterbrochen werden. Der Idiot sagt: ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, die Menschen mißverstehn mich und es ist ja nicht ihr Fehler. Nur ich finde die rechten Wörter nicht. Man könnte ja alle Wörter die es gibt in einem Moment sagen und hätte es immer noch nicht gesagt. Paul nickt ernst. Aber er unterbricht den Idioten nicht. Der sagt: sehen Sie dort drüben: ein Haus. Fenster, Mauern, Dach, Schornsteine, Menschen wohnen drin. Ich wohne in so einem Haus. Doch gestern Abend als ich nach Haus zurückkam, da konnte ich nicht hinein. Es war aber nicht verschlossen, verstehn Sie mich, alles war in Ordnung, könnte man sagen, mit dem Haus. Aber ich stand vor der Tür und brachte es nicht fertig hineinzugehen. Etwas hielt mich draußen fest, sozusagen. Ich konnte den Gedanken gar nicht denken, wieder drin zu sein. Ich lief noch einmal um den Block, versuchte es wieder, doch es war dasselbe. Die ganze Nacht blieb ich draußen, und jedesmal wenn ich noch einmal versuchte ins Haus zu gehn, hielt es mich fest. Das Draußen. Wissen Sie. Das nicht drin sein Wollen. Verstehn Sie was ich meine?
Das Draußen?
Ja, sagt Paul nur, das versteh ich.
Der Idiot guckt. Das verstehn Sie? Sie sind der Erste.
Ja, sagt Paul, sieht aus dem Fenster, das Draußen.
Aber die Leut, sagt der Idiot, wie sag ich das den Leuten bloß. Die lachen nur. Ich lach nicht, sagt Paul. Der Idiot sieht ihn etwas ratlos an. Sie lachen nicht, sagt er nach einer Weile.
Paul gibt eine Party. Einen Zirkel. Er hat einige seiner engsten Freunde geladen. Den Herrn Hölderlin. Die Frau Bachmann. Den Herrn Jahnn. Er redet sie mit Sie an. Meine Herrn und meine Dame, wir haben uns hier eingefunden.
Jeder hat einen Platz gewählt. Frau Bachmann sitzt im Erker in einem Sessel. Herr Hölderlin steht am Fenster und schaut hinaus. Am Tisch Herr Jahnn, mit einem zierlichen Glas Wein vor sich. Sein Lieblingsglas. Paul holt es immer nur für Herrn Jahnn hervor, wenn er zu Besuch ist.
Frau Bachmann blättert in einem Photoalbum. Lacht schüchtern. Herr Hölderlin schaut ihr über die Schulter. Sind Sie das, Paul, fragt er hinüber. Ja, mit vier Jahren, sagt Paul. Ach, die Kinder, sagt Herr Hölderlin sanft, lächelt, schaut wieder hinaus. Herr Jahnn blickt zu Paul hinüber. Unsere Schwärmer, sagt sein Blick. Paul grinst. Holde Äuglein, unschuldig' Gesichtlein, sagt er fromm. Herr Hölderlin sagt nach einer Weile ohne sich vom Fenster abzuwenden: Sie haben ja recht. Gerade verprügeln drei Jungen dort unten einen vierten, der nur mit ihnen hatte spielen wollen. Weil sie keine Notiz von ihm nahmen, nahm er einfach den Ball an sich mit dem sie spielten. Damit sie ihn beachten müßten. Doch sie verprügeln ihn jetzt nur dafür.
Herr Jahnn sagt: kommen Sie doch lieber vom Fenster weg, Herr Hölderlin. Setzen Sie sich zu mir. Man kann es doch nicht ändern, so ist der Mensch. Ein Tier, das brutal sein Territorium verteidigt. Herr Hölderlin setzt sich, nimmt ein Glas. Daß man sie nicht zum Schönen erzogen hat, sagt er unruhig. Die anderen drei sehen ihn mitfühlend an. Herr Jahnn gießt ihm Wein ein. Das Glas beginnt in Herrn Hölderlins Hand zu zittern. Er verschüttet Wein. Verzeihen Sie, sagt er, aber ich kann mich einfach nicht an diese Hubschrauber gewöhnen. Paul schließt schnell das Fenster.
Paul hat keine Erinnerung an einen Anfang. Licht der Welt. Erste Schritte, von anderen berichtet, durch Photographien bezeugt, die Paul erschauern ließen. Keine eigene Erinnerung zu haben an diese aufdringlichen Beweise seiner Wirklichkeit.
Kleiner krabbelnder Paul. Augen, Hände. Die seinen. Pauls. Den Namen gestammelt, den Laut hervorgestoßen, nachgeahmt was ihm die Menschen vorgesagt, um sich der Bedrängnis ihrer Erwartung zu entledigen. Paul. Ja, Paul. Umarmung, feuchter Kuß. Unser Paul. Er ließ es über sich ergehen, wehrlos. Ohne es zu wissen. Ihr Paul. Viel später wehrte er sich, entdeckte den Trotz. Paul, der den Gutenachtkuß verwehrt. Verwehrt den Gutenachtkuß! Trotziger Bengel. Was hast du denn? Mamma mag dich so auch nicht mehr. Knallt die Tür. Die Stille in seinem kleinen Zimmer. So mögen sie dich nicht. Die Wände scheinen es ihm zu wiederholen. Heute noch. Wollen ihn nicht haben in ihrer Mitte, schließen ihn aus, schweigen ihn an. Dann sagt er Worte laut, die zwischen den Möbeln verschwinden. Da zieht er den Mantel an und geht hinaus. Bleibt vor der Tür einen Moment stehn. Horcht ins Treppenhaus. Summt eine Melodie, noch aus seiner frühen Jugend. Weinende Geige. Nein, was weint ist die Melodie. Die Geige spielt fest und herzlos. Nicht eine Rührung im Treppenhaus. Klar und kalt die Stufen. Er beginnt die Treppe hinunterzugehen. Und wenn sich nun herausstellte, daß sie endlos weitergeht? Nach unten und oben? Tritt schließlich auf die Straße hinaus, freies Licht, Berggipfel. Und doch Häuserschlucht. Quadrate der Blocks. Wer kein Ziel hat befindet sich im Labyrinth. Überall. Doch Paul weiß sich zu fangen. Wirft eine Gedankenschlinge. Er denkt: als Kind glaubte ich noch, man würde durch eigenes Verschulden ausgeschlossen. Heute weiß ich, daß man von Anfang an in einer Welt lebt, die niemanden aufnimmt. Man muß sich ihr aufdrängen, wenn man wahrgenommen werden will.
Paul drängt sich der Welt nicht mehr auf. Er drängt sich durch sie hindurch, wie man sich durch eine Menschenmasse drängt. Ohne sich den Menschen aufzudrängen, ohne zu ihnen zu sprechen. Wen sollte es interessieren was Paul zu sagen hat, nur weil er es zu sagen hat. Warum sollte er sich wünschen, von ihnen wahrgenommen zu werden. Die ihn von sich aus nicht wahrhaben wollen.
Paul hat ein Spiel, das spielt er am liebsten. Dazu setzt er sich an einen Tisch, holt Papier und Stift hervor. Schreibt, den Worten auf der Spur. Wir wollen es gleich sagen, Paul ist kein Schriftsteller. Er spielt. Da sind die kleinen Ornamente der Buchstaben. Die Wortarabesken. Zeilengirlanden. Die Musterplatten der vollgeschriebenen Seiten. Paul kostet den Vorgang aus, wie sich die kleinen Zeichen die er malt durchs unbeschriebene Weiß graben, bis ein Blatt zerfurcht ist. Mit Wortspuren, wie Radrillen in frischem Schnee. Besudelte Unberührtheit. Von ihm besudelt, es ist deutlich sichtbar. Pauls Handschrift. Pauls Worte. Geborgt und neu verwoben. Was dort so steht. Paul sieht es sich an. Da wird etwas verraten. Die Worte ziehen sich aus, sagt Paul, wenn ich schreibe. Vorher sind sie im Anzug. Undurchschaubar vor steriler Korrektheit. Paul greift sie sich und wirft sie in seine Handschrift. Da liegen sie verdutzt. Neben anderen. Plötzlich nicht mehr so selbstsicher. Entblößt. Zeigen, was sie sonst so gerne verbergen, daß sie Zeichen sind hinter denen etwas beginnt. Und wenn es nun Pauls Ahnungen sind, seine Lebensfäden?
Holztisch, Straßenverkehr, Gewitterahnung in der Luft. Paul inmitten. Sitzt im Zeitstrudel. Hätte er sich das je träumen lassen, auf diese Weise an diesem Ort zu sitzen? Sicher nicht. Man kann es so nicht einmal erträumen, wie es dann kommt. Man weiß nie, welche der tausenden von Saiten in einem schließlich angerissen wird. Später kann es erklärt werden, wie es dazu kam. Man erinnert sich an die Saite. Sie war immer da. Klang mitunter zart an. Jetzt ist sie fest angerissen worden und damit alle Erinnerungen an sie, seien sie noch so vage gewesen. Und doch hätte es eine andere sein können, von deren Existenz man noch nichts weiß. Paul denkt, daß die Anzahl dieser Saiten natürlich begrenzt ist. Je älter einer wird, desto weniger neue Saiten kommen hinzu. Doch immer erst wenn sie angeschlagen werden erinnert man sich daran, daß sie schon früher mitunter ganz leicht klang. Paul versucht, diese Saiten aufeinander abzustimmen, seine Ahnungen zusammenwirken zu lassen. Damit ihr Klang nicht in ein zufallsbedingtes Chaos ausartet. Er sucht nach dem einen Gedanken in allen seinen Ahnungen. Er hält es mit Herrn Schopenhauer der sagte, daß in allem was er geschrieben habe lediglich eine Idee stecke. Und wenn einer wie der Herr Schopenhauer nur eine Idee hatte, wie sollte da Paul denken, er sei schlauer. Paul hat nur eine einzige Idee, die er sucht. Nach einem ganzen Menschenleben, sagt er, ist sie sicher noch nicht einmal ganz ausgedrückt. Sicher ist diese Idee nicht so ganz einfach auszudrücken, dazu kann sie noch von vielen Seiten betrachtet werden und sieht aus jeder Richtung völlig anders aus. Paul ändert sehr gerne seinen Blickwinkel auf die Dinge. Deshalb fällt es ihm oft schwer eine feste Meinung zu einer Sache zu haben. Denn wer eine feste Meinung hat, der spricht aus einer einzigen Richtung über eine Sache.
Paul und der Idiot sind aufs Land gefahren. Das tun sie von Zeit zu Zeit. Um eine Nacht lang auf einem Hügel zu sitzen. So auch jetzt. Zwei Menschen unterm Schwarz. Unter den Sternennadeln. Stechen die Pupillen, die selbst schwarz wie dieser Himmel sind. Es ist still. Sehr lange. Der Idiot sagt schließlich: ich bin so froh um unsere Ausflüge hierher. Froh, daß Sie mit mir kommen. Alleine hätte ich nicht mehr die Kraft. Als junger Mensch hat es mir nichts ausgemacht. Ich fand immer zurück. Doch heute würde ich mich an dieses Schwarz verlieren. Und doch will ich immer wieder hierherfahren um es zu sehn. Nichts ruft fürchterlicher, schweigender und dabei so unwiderstehlich. Hören Sie? Paul blickt hinauf in den großen, schwarzen Blick. Er nickt schweigend. Das Grauen könnt einem kommen, sagt der Idiot ängstlich. Dann bleibt er still. Sie werden so dort schweigend sitzen, bis sie dem Schwarz nicht mehr standhalten können. Oder sie werden müde, oder sie frieren. Dann stehn sie auf und führen einander zurück zum Wagen. Zwei so Zerbrechliche.
Paul liebt den offenen Blick, den weiten Raum. Haßt Orte, die komplett sind. Eingerichtet. Und liebt doch das überfüllte Treiben der Großstädte, dieses kranke, müde Weiterschlagen verkalkter Herzen. Und weil seine Umgebung in der Großstadt so vollgestellt ist sucht er den Raum der Phantasie. In den Abstraktionen ist noch Platz, sagt Paul. Unendlich viel Platz, eher sogar zuviel. Die millionen leeren Stellen der Möglichkeiten. Paul geht durch die Straßen und sieht sich das Menschentreiben an. Viel zuviel gibt es davon. Paul möchte da nicht auch noch etwas hineinwerfen. Wie sie alle glauben, etwas beitragen zu müssen. Wie sie bauen, basteln, auf Häuserwände ihre Parolen schmieren. Wie sie malen, schreiben, musizieren und glauben, ihr Tun anderen vorführen zu müssen. Als wäre die Welt nicht längst übervoll von durchschnittlichem Gesabbel. Jede Gruppe von zehn Leuten, ach Bezugsgruppe, glaubt, ihre eigene Zeitung machen zu müssen. Jeder der nicht völliger Analphabet ist fühlt sich da zum Schriftsteller berufen, nur weil er ein Problem hat und keiner mehr zuhört. Paul sieht diesem Treiben belustigt zu. Wie wichtig sie sich nehmen, denkt er. Und wie sehr sie die anderen dazu brauchen. Mit sich allein kommt längst keiner mehr aus, das nennen sie dann Identitätskrise. Ach diese Leere, dieser fehlende Sinn des Lebens. Paul lacht. Über die Klubs, die sich selbst zum Zweck sind, den sie selbst erfunden haben. Über die Arbeitsämter, wo sie Arbeitslose verwalten, die längst nicht mehr vermittelt werden können, doch diese Verwaltung erhält dem Arbeitsamt Arbeit. Da haben dann die Linken ihre Zeitungen. Man erhitzt sich über Artikel, die niemanden mehr wach rufen, denn die Gegenseite hat ihre eigenen Zeitungen. Auf diese Weise tüfteln die Bastler, die Sportler trainieren, die Kritischen diskutieren, die Mobilisten waschen ihre Autos und hassen den Radfahrer, der den Fußgänger anschreit, der auf seinem Radweg vor einer roten Ampel wartet. Und keiner nimmt von den Ansichten des anderen Notiz. Hält sein Grüppchen für die Welt, die Gesprächsinhalte seiner Clique für die Weltweisheit schlechthin. Paul hört sich so an, was sie alle erzählen und bedenkt ihre Ansichten. Ja, so kann mans auch sehen, sagt er dann bedächtig. Ohne Zynismus, muß gesagt werden. Paul nimmt die Weisheiten der Leute ernst. So leben die immerhin, sagt er. Nur widersprechen sich diese Weisheiten meist. Heiliges Chaos, sagt Paul, nicht ohne etwas Zärtliches in der Stimme.
Dann setzt er sich in sein Stammlokal, schaut hinaus auf die, die dort die Welt so gut verstehen und sieht ihnen zu, wie sie sie zuschande richten. Weil jeder glaubt, dem anderen seine Lösung einbläuen zu müssen. Paul hat keine Lösung bereit. Paul feilscht nicht mit, wenn es um die Rettung des Planeten geht. Paul macht seine Geschichten. Von den Unmöglichkeiten des Zusammenhalts. Und die haben noch keinen um sein Lebensglück gebracht oder ihm die eigene Lösungsvorstellung verdorben. Wer im Abstrakten bleibt, sagt Paul, der führt keinen Krieg. Nur wer glaubt, seine Lösungsphantasien seien eine Garantie für ein sinnvolles Leben, haut dem anderen auf den Kopf.
Natürlich ist Paul ein Feigling. Wofür sollte er ein Held sein? Paul liebt das Chaos der Wahrheiten vor seiner Tür. Es muß so sein, denkt er. Wer wollte sich anmaßen, er habe die eine Wahrheit und damit das Recht, alle anderen Wahrheiten auszumerzen?
Paul geht arbeiten. Hin und wieder. Man braucht nun mal Geld. Er trifft gerne mit den Menschen zusammen, die jahraus jahrein einer Arbeit nachgehen. Hört sich ihre Sorgen an. Die Kinder, das ewige Kreuzweh. Freut sich, daß sich die Gesichter aufhellen, wenn er sich aus diesen mißgelaunten, aussichtslosen Existenzen erzählen läßt. Die kleine Anteilnahme. Da wird der Erzähler viel von seinem Leid los, dem er schon lange nicht mehr zu entrinnen wagt. Kann man für einen Menschen mehr tun, sagt Paul, als ihn für Momente ernst zu nehmen, als ihn für eine Zeit als Menschen zu behandeln?
Herr Hölderlin erzählt Paul von seiner späten Zeit in Tübingen. Da lebte ich bei einem Schreinermeister, dem Herrn Zimmer, wissen Sie, sagt er. Der hat für mich gesorgt. Ich war ja eigentlich unerträglich geworden. Redete wirres Zeug. Hatte meine Tobsuchtsanfälle. Er hat meine verschmutzten Bettlaken ausgewechselt. Seine Frau hat sie gewaschen. Sie hat für mich gekocht. Die beiden haben mir auf meiner Suche nach dem besseren Menschen eine sehr schöne und einfache Antwort gegeben. Es kamen ja noch jahrelang Besucher, die den irren Dichter sehen wollten. Die wollten dann, daß ich etwas dichte oder ihnen vorlese. Ich habs meist getan. So bekam ich sie am schnellsten wieder los. Manche waren auch hartnäckig und wollten mit mir über meinen Zustand reden. Wollten mir helfen, so nannten sies. Ich sollte wieder in ihre Kreise eintreten. Ich sage ihnen aber mein lieber Paul, die einzigen die mir geholfen haben waren die Eheleut Zimmer. Die haben mich geachtet, so wie ich geworden war. Ohne daß ich ihr Spiel mitspielen mußte ließen sie mich sein. Das ist das einzige was man für einen Menschen tun kann. Es ist aber sehr schwer, vielleicht das Schwierigste. Ich weiß, sagt Paul.
Regen fällt, wäscht eine Zeit aus der grauen Hölle des Nachmittags. Paul geht unter Bäumen hin. Tritt er aus den trockenen, runden Flecken die um ihre Stämme liegen unter den Blätterglocken hervor hinaus in den Raum zwischen zwei Bäumen, wird er von kühlen Tropfen getroffen, mit weicher Wucht. Menschen verharren in Hauseingängen. Sehen Paul unverwandt nach, wie er so unbekümmert im Regen geht. Paul sieht sie kaum, er hört auf den Regen. Fühlt die Zeit, verwaschen im rinnenden Himmelswasser. Träfe ich jetzt einen Bekannten, so müßte ich ihm wohl eine Melodie vorsingen um mich mit ihm darüber zu verständigen, was der Regen tut, denkt er. Sehnt sich plötzlich nach einer Begegnung. Nicht mit einem Menschen. Der würde nur sagen, was die Menschen so dahinsagen, wenn es regnet. Paul sehnt sich nach Ausdruck. Nach einer Bewegung, einem Geräusch, das er in die Zeit legen könnte, die da aus dem Himmel herunterfällt. So viel Zeit auf einen so kleinen Wicht, lacht er.
Seltsam, daß es für die Zeit nur ein Wort gibt. Für diesen Strudel von Befindlichkeiten, diese Vielfalt an Wahrnehmungen. Wenn es regnet ist die große Zeit, denkt Paul. Und die kleine Zeit? Ist es die kleine Zeit, wenn man lächelt, wenn da eine Zärtlichkeit ist, ein Augenblick ohne die Weite des Horizonts? So, wie in der großen Zeit eine süße Traurigkeit schwingt, eine Sehnsucht nach unendlichem Ausschreiten?
Paul denkt an seinen Freund, den Idioten. Der ist in die große Zeit gefallen. Nie lacht er das Lachen der Momente. Wenn er lacht, dann ist es ein irres, wundes Gelächter, das zum Horizont greift, weil er selbst nie dorthin gelangen kann. Es ist niemals das Lachen, das den Moment ganz anfüllt und auch nur ihm gilt. Paul denkt an die Geschichte des Idioten vom Draußen. Im Draußen ist die große Zeit, im Drinnen ist die kleine Zeit, im direkten Umgang mit den Dingen. Während sich die große Zeit zwischen den Menschen und die Dinge stellt und ihn ins Draußen wirft, ist die kleine Zeit die Momentenkette, auf der der Mensch mitgerissen wird.
Paul bewegt sich gerne in der großen Zeit. Er liebt ihre horizontgerichtete Sprachlosigkeit, ihre Haltlosigkeit, ihre große Frage, der keine Antwort je gerecht wird.
Paul steht vor dem Spiegel. Schaut auf die Zeit. Körper, der welkt. Paul ist noch keine dreißig Jahre alt, und das Welken ist noch nicht weit fortgeschritten. Doch er sieht Jahre auf der Haut sitzen, die seine Stirne überspannt. Viele Sommer und Winter in seinem bleicher gewordenen Haar. Der alternde Körper als Zeichen, in dem sich Zeit zeigt. Nur seine Augen sind jung geblieben. Doch auch sie haben sich verändert. Sie sind heller geworden, das tiefe dunkle Braun der Jugend vom Licht zerstochen zu einem helleren Ton mit grünem Einschlag. Pauls Haut zeigt auf den Händen winzige Schollen. Um sie her tiefe Furchen. Sie waren immer, jetzt dörren sie. Die Schultern sind ganz sacht gesunken. Paul ist schlank. Daher treten die Knochen nun deutlicher unter den schwindenden Muskeln hervor. Wie hübsch, sagt Paul. Lächelt traurig. Sieht es und wird heiter. Paul betrachtet sein Altern gerne. Gut, den Weg alles Seienden auf so angenehme Weise gehen zu können, denkt er. Er liebt die austrocknende, glatte Haut, ihre zarten Schwünge um die Kieferknochen, die Einschnitte der Mundwinkel. Das Nüßchen der Elle am Handgelenk, vorspringende Rundung, hautumflossen. Die Rillengraphik der Fingerunterseiten. Flußfurchen des Handtellers. Rotes Fleisch der Lippen, Haut darüber, hauchdünn und straff. Feine Verletzbarkeit. Die Behaarung über Brust und Bauch, wie ausgegossen. Sanft anmodelliert darüber die Kugeln der Schulter. Zum Hals gestützt mit den eingelassenen Streben der Schlüsselbeine. Ihre Furchen. Die Muskelbögen der Arme. Die hellen Unterarme, daran die Hände, zarte Fünfender.
Paul widmet sich gerne der langen, horizonteweiten Zeit. Doch auch der raschen, in winzige Momente unterteilten Stückwerkzeit, die mit dem zuckenden Sekundenzeiger einer Uhr aus Augenblicken eine Kreislinie macht. Er begreift sich als einer, in dem sich Zeit zeigt. Vorher Paul, nachher Paul. Immer einer und doch immer ein anderer. Nicht der Paul von vorhin und doch Paul. Da zeigt sich, was für ein komplizierter Vorgang die Zeit ist. Wäre er nur immer ein anderer und nicht doch immer derselbe, gäbe es nur eine unendliche Ansammlung verschiedener Pauls in der Momentenkette der kleinen Zeit, dann wäre die Zeit eine weiterfließende Bewegung. Doch in der großen Zeit, wo Paul nur immer einer bleibt, da fließt nichts.
Sein Körper, das weiß er, erneuert jede einzelne seiner Zellen, ausgenommen die Gehirnzellen, innerhalb einer kurzen Zeitspanne. Dann sind seine Lippen neu. Seine Finger. Seine Organe, alle neu. Und doch ist es noch sein alternder Körper, kein anderer. Ein duplizierter Körper mit Abschreibefehlern beim Erstellen des Bauplans in den neuen Zellen. Abschreibfehler, die das Altern ausmachen.
Paul und der Idiot sitzen im Café. Ich dachte eben über das Schweigen nach, sagt der Idiot zu Paul. Es sucht mich heim, ohne daß ich es wollte. Doch nicht von außen, es scheint sich von innen heraus um mich auszubreiten. Es schaft ein Hintreiben in einer unantastbaren Welt.
Paul nickt. Man ist dann in der großen Zeit, sagt er.
Der Idiot sieht ihn an. Wie meinen Sie das? Paul schweigt. Wie soll er einem, der nur noch in der großen Zeit lebt, die kleine Zeit erklären. Er sagt: Die meisten Menschen wissen nichts vom schwarzen Nachthimmel zu sagen, außer, daß er voller Sterne ist. Sie kennen das Singen einer Straße nicht, die man alleine hinuntergeht, ziellos. Das ist so, weil die meisten Menschen nur die kleine Zeit kennen. In der Überschaubarkeit. Sie tun alles zu einem gewissen Zweck. Die Zeitspanne zwischen ihrer Absicht und dem Erreichen ihres Vorhabens ist für sie ein Vorgang mit Anfang und Ende. Es ist die kleine Zeit. Die Zeit, an der die Abläufe des Notwendigen gemessen werden. Jetzt kaufe ich ein, damit ich nachher zu essen habe. Anfang und Ende sind klar umrissen. Doch das Schweigen ist ein Zustand, dessen Ende und Anfang nicht auszumachen sind, wenn man sich in ihm befindet. Wir wachen aus diesem Zustand zwar wieder auf, doch wenn wir im Schweigen sind, scheint es endlos zu sein.
Der Idiot nickt. Ich war im Schweigen als Sie das Café betraten. Sie setzten sich zu mir und begrüßten mich. Ich sagte auch ein Grußwort. Daran brach sich erst das Schweigen. Wir tauschten Worte und Blicke und tranken zusammen. Etwas um mich wurde direkter, klarer, wie durchschnitten von ihrer Anwesenheit und unseren Worten.
Paul lächelt: die kleine Zeit hat die große durchtrennt und sich auf sie gesetzt. Sehen Sie, so meine ich es.
Der Idiot sieht an Paul vorbei. Unsere Worte waren wie Seile, an denen wir uns im Schweigen festhielten, sagt er. Im Schweigen treten die Gedanken zurück. Ungeordnet wirbeln Eindrücke umher. Es gelingt mir kaum, im Schweigen einen Gedanken zu verfolgen. Denn im Schweigen sind Ahnungen, die von Worten nicht ausgedrückt werden können. Das Schweigen weist die Worte sogar zurück, um die Ahnungen nicht zu zerstören. Im Schweigen schmerzen die Worte mit ihrer scharfen Begrenztheit, ihrer Enge. Sie reichen ja nie hin, etwas zu sagen. Diese Worte zerren einen ja zurück in eine Wirklichkeit, die so hart ist, so voll, so eng, daß ich an ihr gescheitert bin.
Das Schweigen ist lange und still, sagt Paul. Es ist Verlorensein und Traurigkeit. Aber es ist frei von Haß. Darum wollen wir gerne dort bleiben, auch wenn es uns von den Dingen trennt.
Da liegt nun die Stadt im grauen Winterlicht. Liegt wie ein Fleck im Land, zu dem sie lange schon nicht mehr gehört, auch wenn die Menschen noch die Sprache hier wie dort verstehen. Die Stadt hat sich sozusagen vom Boden des Landes entfernt, in dem sie liegt. Sie schwebt. Und gräbt sich unters Land. Ihr Schweben vollzieht sich dabei in den Millionen Köpfen ihrer Bewohner, ihr Graben vollzieht sich mittels Baumaschinen im Grund. Röhren, Tunnels, Tiefgaragen. Nur auf normaler ländischer Bodenhöhe scheint die Stadt nicht stattzufinden. Auf merkwürdige Weise dem soliden Boden unter den Füßen enthoben bewegen sich die Leute in ihr umher. Flitzt der Verkehr. Paul hat ein Buch, darin ist ein Bild einer Stadt, die auf einer Insel über dem Boden schwebt. So ist das. Geschäftiges Treiben, das sich vom Erdboden gelöst hat und in den haltlosen Raum hinaufstrebt. Die Bewohner der Stadt nehmen davon keine Notiz. Grüppchen von Minderheiten nur erschreckt dieses Abheben und sie fühlen sich berufen, die anderen Bewohner darauf hinzuweisen, daß man dabei ist die Verbindung zum festen Boden zu verlieren. Diese Leute wollen am liebsten die Stadt wieder fest auf dem Land vertäuen. Paul denkt eher, daß es ihnen nicht gelingen wird, so aufrichtig er ihre Argumente verstehen kann. Man dürfe nicht so tun, als gäbe es nur die Stadt. Man dürfe die Zusammenhänge nicht vergessen. Die jedem Kind bekannten Bedrohungen: Umweltbelastung und Entfremdung. Die Natur, sagen die Grüppchen, das Gleichgewicht. Ja, sagt Paul, die Natur. Nur gibt er zu bedenken, daß der Mensch auch Natur ist und auch seine Städte und daß in der Natur nie wirklich ein Gleichgewicht geherrscht hat. Immer hat sich da etwas gegen anderes durchgesetzt. Immer hat da eine Entwicklung anderes zerstört. Ja, aber nie wurde die gesamte Natur zerstört, entrüsten sich die Grüppchen. Ja, sagt Paul, und auch heute wird nicht die gesamte Natur zerstört. So romantisch überzogen will er das nicht sehen. Sein Jahrundert ist ein schnelles, ein überaus gefräßiges Jahrhundert. Ungeheure Auflösungen, Übergänge Zerstörungen finden da statt. So daß selbst jeder Trottel sie bemerken muß. Und das ist doch eine Chance.
Die Grüppchen finden sich damit aber nicht ab. Wir wollen aber doch alle in einer intakten Natur leben, sagen sie. Paul sieht zum Fenster hinaus, lächelt. Ja, das wollen wir. Aber sehen Sie sich halt an was geschieht, wenn so viele in der Natur überleben wollen: alle die Menschen, die ernährt werden wollen, die ein Dach über einer geheizten Wohnung wollen. Glauben Sie, fragt er die Grüppchen, daß die Menschen darauf verzichten werden? Die Grüppchen reden von vernünftiger Einschränkung. Die glaubt ihnen Paul aber nicht. Er bricht die Diskussion ab. Wollen ihm die Grüppchen doch den Weltmoment einreden, wo alle Menschen vernunftsorientiert verzichten, wobei er, Paul, aus dem Fenster auf die Welt sehend, eher beobachtet, daß es mit der Vernunft steil bergab geht und nur neue Technologien die Probleme noch lösen könnten. Denn neue Technologien mag der Mensch ganz ohne Vernunft. Er ist halt so verspielt.
Ich beneide Sie um ihre Bekanntschaften, sagt Maurice zu Paul. Wer sind dieser Herr Jahnn, dieser Herr Hölderlin und diese Frau Bachmann? Wo treffen Sie solche Leute?
Auf der Straße, sagt Paul. Sie gehen ihren mehr oder weniger normalen Berufen nach, tragen ihre ganz normalen Namen auf Ämter und nageln sie an ihre Wohnungstüren. Aber man muß nur genau hinsehen und erkennt vage Jahnn, Hölderlin, Bachmann und so fort in ihnen. Sie würden in ihnen möglicherweise ganz stinknormale Bürger sehen, wenn sie Ihnen begegneten. Ich lege nur meine Vorstellungen von diesen Personen in sie hinein.
Aber was ist, wenn Ihnen Hölderlin von seiner späten Zeit erzählt, fragt Maurice. Herr Hölderlin, bitteschön, sagt Paul. Nun, nehmen Sie das nicht alles so ernst, Herr Hölderlin spielt eben mit. Einmal hat er uns sehr belustigt als er eines Abends plötzlich ganz still und traurig wurde und sagte: schade, daß ich schon tot bin. Ich hätte dieses merkwürdig schön zerrissene Jahrhundert in dem Sie leben auch noch gerne miterlebt.
Heben wir den Blick ein wenig, schauen wir hinaus über die Stadt in der Paul lebt, wo seine Begegnungen stattfinden. Fragen wir uns aus unserer größeren Höhe, wie man Paul wohl beschreiben könnte, mit den gängigen Worten seiner Zeit.
Zu allererst: wovon lebt Paul?
Er geht arbeiten. Es muß gesagt werden, daß Pauls Arbeit nicht dem Niveau seiner Vorbildung entspricht, ist es doch in seiner Zeit eine weitverbreitete Sicht geworden, daß man nach dem Niveau seiner Bildung beschäftigt, und vor allen Dingen auch bezahlt werden will. Gradlinig sind da die Leut, würde Paul sagen, die Ware und ihr Marktwert.
Was also einer wert ist, zeigt sich für die Leute in Pauls Zeit vorallem auf seinem Lohnstreifen. Und alle scheinen es selbst so haben zu wollen. Paul verkauft sich in den Augen seiner Zeitgenossen unter seinem Preis. Doch seine Arbeit macht ihm Freude, sie strengt ihn wenig an, vorallem läßt sie seinen Kopf frei für die Fragen, die er sich stellt und die ihm kein Beruf dieser Welt beantworten könnte. Zudem hat er das Glück, von den meisten seiner Kollegen gerührt zu werden. Nicht privat, denn da ist er in einer anderen Welt. Doch er mag es, mit diesen einfachen Menschen zu arbeiten, die ohne die Neurosenschnörkel der Kulturschaffenden und ohne die Profilneurosen der Akademiker sind, ganz zu schweigen von der Wehleidigkeit der Kreativen. Zu denen zählt sich Paul nicht. Er ist nicht kreativ. Er ist verspielt. Und seiner Verspieltheit ist in seinem Arbeitsverhältnis viel Raum gelassen. Denn kein oberschlauer Kulturschaffender schaut ihm über die Schulter. Keinem sensiblen Mitstreiter kann er zum Rivalen werden. Paul spielt seine Spiele allein.
Seine Arbeit erledigt er zuverlässig. Er ist kein fauler Mensch, doch auch nicht ehrgeizig. Er will keine höhere Position erreichen. Er identifiziert sich nicht mit seiner Arbeit, würde seine Zeit sagen. Er geht zur Arbeit, um Geld zu haben. In den Worten seiner Zeit: er hat keinen Beruf, in dem er sich verwirklichen könnte. Wo also, um weiter mit seiner Zeit zu fragen, verwirklicht sich Paul?
Paul antwortet: im Spiel.
Nun, das ist ein geplagtes kleines Wort, hinter dem sich in Pauls Zeit eine unüberschaubare Fülle von Bedeutungen verbirgt. Wir müßten also, wie es für Pauls begriffsverwirrte Zeit wiederum typisch ist, den Begriff: `Spiel' zunächst auf Paul hin gesehen spezifizieren. Bleiben wir dabei, es ganz einfach zu sagen: Pauls Lieblingsspiele sind seine Begegnungen mit Menschen. Gleich darauf folgen seine Kritzeleien auf Papier. Doch wir werden nun, ganz entgegen den Gepflogenheiten seiner Zeit, diese beiden Lieblingsspiele Pauls nicht erkärend erhellen, sondern dem Leser empfehlen, zur Mehrung seines Verständnisses einfach diese Hinweise im Hinterkopf zu behalten und aufmerksam weiterzulesen.
Vom grauweißen Streugut verschmutzte Straßen knirschen, wenn sie begangen werden. Jegliche Art der Fortbewegung wird von einem scheuernden Geräusch unterlegt, das ein unangenehmes Empfinden auslöst: den Eindruck von Sand in einem Getriebe. Der Platz den wir überschauen ist über und über bedeckt mit solchem Streugut. Die Menschen und Fahrzeuge sind ein einziges scheuerndes Konzert. Ein knirschendes Rutschen stiehlt sich zwischen sie und das Pflaster des Platzes. Die Fortbewegung wird ein undeutliches Gekratze. Mitten auf diesem Platz steht der Idiot. Hält sich die Ohren zu und spricht laut. Will das Geknirsche nicht mehr hören. Das dreckige, schwarzmatte Knirschen im Schnee, das sich klumpt. Der Idiot steht mit gesunkenen Armen und Schultern, sein Blick auf dem Pflaster. Er redet. Fegt das denn keiner weg. Er sagt es viele Male. Blicke streifen ihn, geschüttelte Köpfe werden vorübergetragen. Zulezt ein Kopf, der sich nicht schüttelt. Feste, aber freundliche Worte: kommen Sie, ich spendiere Ihnen einen Kaffee.
Der Idiot folgt brav in ein Café. Er redet nicht, trinkt still. Besser, fragt die Frau. Der Idiot nickt, trinkt aus. Es gibt nichts zu sagen. Die Frau liest in einer Zeitung, der Idiot blickt auf den Platz hinaus.
Da ist ein Freund von mir, sagt er plötzlich lebhaft, klopft an die Scheibe. Dann stürzt er hinaus. Streckt noch einmal den Kopf zur Tür herein. Danke, meine Dame. Die Frau lächelt und wendet sich dann wieder den Flugzeugabstürzen und Verlautbarungen gut informierter Kreise zu. Dann sieht sie aus dem Fenster. Dort redet der alte Mann mit einem wesentlich jüngeren. Der Jüngere lächelt einmal zu ihr herein. Sie grüßt zurück.
Später kommt dieser Mann herein und nimmt sich eine Zeitung. Wieder treffen sich ihre Blicke. Er setzt sich an einen anderen Tisch und bestellt Kaffee. Als die junge Frau aufbricht, verabschiedet sie sich von ihm mit einem Blick. Beide lächeln. Die Frau tritt hinaus auf den Platz.
Es war Lisas erste Begegnung mit Paul.
Paul denkt. So eine nette, kleine Person. Er mochte ihr Lächeln. Er mochte die aufgebrachte Mitteilsamkeit des Idioten, mit der er Paul von seiner Wohltäterin erzählte. Feuchte Augen hatte der Idiot. Weil es solche Menschen noch gibt. Ein Teil der Dankbarkeit sprang auf Paul über. Daran denkt er und an das Äußere der netten, kleinen Person. Eine zierliche, kleingewachsene Frau. Paul schätzt sie auf Anfang dreißig. Dann ist sie etwas älter als ich, denkt er und lacht, denn er hat an diesem Gedanken seine Neugier entlarvt. Er denkt an das hübsche, wache Gesicht dieser Frau. Paul ist ein gewöhnlicher Mann und denkt daher auch an den Körper unter dem Gesicht. Flüchtig. Seine Gedanken werden schnell wieder klar und er fragt sich: was ist das für eine Person, die den Idioten ohne Umschweife auf einen Kaffee einläd, ohne ihn gleich unter ihre Fittiche nehmen zu wollen?
Lisa ist eine Frau die gelernt hat zu wissen was sie will, ohne damit gefallen zu müssen. Daher hat sie oft darunter leiden müssen, eine Frau zu sein. Ihre Zeit räumt solchen Frauen noch nicht selbstverständlich einen Platz ein. Doch widmen wir diesem Punkt hier keinen allzugroßen Raum. Lisa macht sich diesbezüglich über ihre Zeit ohnehin keine Illusionen mehr. Sie weiß, wie träge die Zeit um diesen Punkt fließt. Für uns bleibt wichtig, daß sich Lisa trotz der Schwierigkeiten, die ihre Zeit ihr als selbstbestimmter Frau entgegenstellt, nicht in ihre traditionelle Frauenrolle hat abdrängen lassen, die in ihr und in allen Frauen ihrer Zeit noch verführerisch schlummert und zu der sich viele Frauen, die wie Lisa anfangs gegen diese Frauenrolle aufbegehrten, zuletzt doch fliehen. Dabei ist Lisa bereits in einem Alter, das seine Kraft zu widerstehen nicht mehr aus jenem blauäugigen Idealismus bezieht, der jungen Menschen eigen ist und der dann um das dreißigste Jahr herum entgültig verschwunden ist, nachdem er durch die Zwanziger Stück für Stück in Einzelniederlagen abbröckelte, um allmählich der inneren Einsamkeit des älteren Menschen Platz zu machen.
Lisa besitzt etwas, mit dem sie den Verlust der Ideale wettmacht und die Einsamkeit erträgt. Es bewahrt sie davor, sich in die Geborgenheit der alten Frauenrolle fliehen zu müssen, denn es bewahrt ihr ein Selbstvertrauen, das sie nicht mit irgendwelchen putzigen Säuglingen, die sie im Kinderwagen durch die Stadt schiebt, mühsam aufzubauen braucht: es ist das, was die Menschen Lebensweisheit nennen. Diese rätselhafte Kraft aus durchlittenen Kränkungen und ohne Selbstschonung errungener Erkenntnisse, die einen Menschen so zerbrechlich und gleichzeitig doch so unerschütterbar sein lassen, daß die nur Zerbrechlichen, denen es an ebendieser Lebensweisheit fehlt, ihm mitunter gar Gefühlskälte nachsagen, da sie sich nicht vorstellen können, daß der Standfestigkeit einer Person in Fällen, die ihre eigene Kraft überfordern würde, nicht unbedingt mangelnde Sensibilität zugrunde liegen muß.
Hannah und Maurice haben einen Platz am Fenster gewählt. So sind sie, die beiden. Andere hätten sich für den Tisch am Fenster entschieden oder sie hätten einfach dort Platz genommen. Doch Hannah und Maurice pflegen ihre Plätze zu wählen. Sie mögen ein so wohlplatziertes Wort gerne. Das ganz Besondere, im sprachlichen Abendkleid. Dabei ist Hannahs und Maurice' Welt natürlich dieselbe wie zum Beispiel die Pauls. Nur werfen sie einen anderen Blick und andere Worte auf sie. Sie könnten einen Vorgang in Worte kleiden, so daß Paul zunächst den Eindruck hätte, einen solchen Vorgang noch nie erlebt zu haben. Doch Paul spricht mehrere Sprachen. Er versteht Maurice, wenn dieser vom rotbebenden Schrei seines Herzens spricht. Paul versteht auch, wenn der Idiot ihm vom Schreien der Wolken am Herbsthorizont berichtet. Er weiß, daß es der Blick des Idioten in einen Herbstwolkenhimmel ist, der die ganze Haltlosigkeit und Verwirrung angesichts der Endlosigkeit gewahr wird. Paul weiß, daß Maurice' rotbebender Herzensschrei manchmal auch hinter den Worten eines einfachen Menschen pulsiert, der nur erzählt, daß er die ganze Nacht so unruhig gelegen habe ohne Schlaf zu finden. Daran denkt Paul, als er schon von weitem Hannah und Maurice im Fenster des Cafés erblickt, in dem er sich mit ihnen verabredet hat. Er muß unvermittelt lächeln. Natürlich sitzen sie am Fenster. Paul mag die Art und Weise, mit der die beiden diese Vorliebe zelebrieren und damit vor der Gewohnheit bewahren. In eurem Bunde der Dritte, sagt er vergnügt und setzt sich. Na, wie geht es den Liebenden?
Wie gefällt dem Spieler diese Runde, entgegenet Maurice. Ausgezeichnet angeordnet, sagt Paul. Licht, Ausblick, ein schönes Paar Menschen. Wies scheint werfe ich heut eine Doppelsechs nach der anderen. Was wird denn heut gespielt?
Hannah beugt sich ein wenig vor: es war einfach einmal wieder an der Zeit, dich zu treffen, sagt sie.
Es ist hierbei wichtig zu sagen, daß Paul in Hannahs Leben eine Art Hofnarr ist, ein Spaßmacher der gerufen wird, wenn der Schloßherr unterhalten oder zerstreut sein will, der aber auch hin und wieder überraschend plötzlich zwischen den Alltäglichkeiten hervorspringt und seine Sätze spricht, die oft nach dem Lachen eine nachdenkliche oder gar bittere Stille zurücklassen. Gerade aufgrund der im Halse steckenbleibenden hervorgelachten Wahrheiten, die der Hofnarr aus seinem Publikum hervorkitzelt, muß er wohl Narr bleiben, sonst bekäme er die allzu machtvolle Aura des Herren über das schlechte Gewissen und der Wahrheiten, denen man sich nicht mehr stellen kann. Auf diese Weise radschlagt Paul durch Hannahs Leben und es gelingt ihr nicht immer, ihn ganz ernst zu nehmen. Seine narrenhafte Leichtigkeit in Belangen, die ihr tief ans Herz rühren, hat Hannah oft gekränkt, aber auch eine instinktive Distanz in ihr zu Paul geschaffen, mit der sie sich seine unbequemen Narrenwahrheiten vom Leibe hält. Dabei beansprucht sie für sich die etwas höhergelegene Position wie eine Schloßherrin, denn sie hält sich für vernünftiger als Paul. So wie eben der Leichtigkeit immer die Unvernunft anzuhängen scheint. Doch so wie sich die Besucher eines Fastnachtstreibens eben gerade von der leichten freien Unvernunft der Narren Freude und leichte Schauer von Furcht einflößen lassen, gefällt auch Hannah Pauls Leichtigkeit und mitunter beneidet sie ihn sogar um sie.
Ich mag Sie gerne, hat sie vor langer Zeit einmal zu Paul gesagt, Sie bringen mich zum Lachen.
Oje, hatte Paul nur geantwortet.
In diesem denkwürdigen Verhältnis liegt es begründet, daß Hannah Paul nie als ernsthaften Menschen kennengelernt hat. Auch nie als wirklich verletzbaren. Denn sie hält Pauls Momente der Verletzbarkeit wiederum nur für eines seiner Spiele. Paul selbst findet aus diesen Momenten ungewöhnlich schnell in seine spielerische Leichtigkeit zurück. Das trug zu Hannahs Eindruck bei, Paul könne die Traurigkeit nur spielen, doch niemals wirklich erleben, wie zum Beispiel Maurice. In Maurice hat Hannah den Freund gefunden, der sich aufrichtig und ernst der Traurigkeit stellt und aus ihrem dunklen Zimmer auf die Welt sieht. Pauls Blicke auf die Welt sind die Blicke aus den vielen verschiedenen Zimmern seines Befindlichkeitstollhauses, sagt Hannah. Die ernsthafte Traurigkeit von Maurice reduziere Paul auf ein einziges unter vielen Zimmern in seinem Tollhaus, und er wechsle je nach Bedarf das Zimmer, nie treffe man ihn an wo man ihn vermute, man wisse nicht, welches der vielen Zimmer eigentlich Pauls Zimmer sei, aber wahrscheinlich keines.
Auf diesen Vorwurf hatte Paul geantwortet, Maurice stilisiere seine Traurigkeit zur einzigen Wahrheit und reduziere seine anderen Befindlichkeiten zu unbequemen psychologischen Begleiterscheinungen. Er widme ihnen keinerlei Aufmerksamkeit. Er könne sagar erst aus einer Trauer heraus rückwirkend eine Freude erleben, in der Erinnerung, um dann daran leiden zu können, daß sie vorbei sei. Er lasse die Freude und die Leichtigkeit gar nicht gelten, sondern nur die Sehnsucht nach ihnen oder die schmerzliche Erinnerung an sie. Er stelle sich damit nie dem Moment, sondern fliehe in Zukunftserwartung oder Erinnerung. Es war beinahe zum Streit gekommen, denn Hannah hatte ihrerseits wütend versetzt, Paul spreche eben als einer, der zur Traurigkeit unfähig sei und aus dem Gefühl der Minderwertigkeit aufgrund erwiesener fehlender Sensibilität nun versuche, Maurice schlecht zu machen. Paul hatte entgegnen wollen, ob Hannah nicht glaube, daß er, Paul, besseres zu tun habe, als Maurice bei ihr anzuschwärzen und ob ihre Wut nicht eher daher rühre, daß sie selbst Maurice' Weg als den einzig richtigen sehe und ihm, Paul, böse sei, daß er dies bezweifle, es gäbe nämlich einige verschiedene aufrichtige Wege durch ein Leben und jeder müsse ja doch den Großteil der menschlichen Möglichkeiten entbehren, doch er hatte geschwiegen. Er wollte von Hannah nicht wieder einfach der Eifersucht bezichtigt werden. So behielt Hannah ihre Überzeugung bei, sie habe recht behalten, denn Paul ließ ihr selten das letzte Wort in einer ihm so wichtigen Sache wenn er sich gekränkt fühlte. Denn daß sich Paul gekränkt fühlte spürte Hannah, hatte sie ihm doch wieder einmal mangelnde Gefühlstiefe bescheinigt.
Es blieb ihr also immer etwas rätselhaft, daß sich Paul in der Folge doch aufrichtig und wohlwollend für Maurice' Belange interessierte. Es führte dazu, daß Hannah Paul verdächtigte, er suche das Gespräch mit Maurice nur, um beweisen zu können, daß dieser in seiner Trauerarbeit irre. Doch wir können dem Leser an dieser Stelle bereits versichern, daß solche niederen Kampfhahnambitionen nicht der Grund für Pauls Interesse an Maurice' Belangen sind. Er achtet Maurice und dessen Arbeit, die der Verzweiflung gilt, dem Dunklen im Menschen. Sein Interesse gilt der Daseinslösung eines anderen, die er so anzustreben nicht fähig wäre. Nur möchte er das Dunkle nicht als die einzige Wahrheit verstehen, hinter der sich dann, quasi an der Oberfläche der Alltäglichkleiten, die anderen Wahrheiten zutragen. Paul hält die Verzweiflung für eine der Grundbefindlichkeiten unter anderen im menschlichen Sein.
Ein hübscher Ort für ein Treffen, sagt Paul, ein Hannah-Café. Immer könnte ich hier nicht sein, aber für ab und zu... Hannah blickt ihn an. In ihrem Blick liegt eine gemeinsame Vergangenheit der beiden. Hannah erinnert sich an die schlichten Kneipen, die Paul bevorzugt, sie mag die Erinnerungen an diese Orte nicht, Pauls flüchtige Bekannte machten sie eher ratlos, sprachlos, sie bestand die Begegnungen nicht, blieb fremd, ohne Gespräch. Sie denkt an den Idioten. Schaut zu Maurice hinüber und fühlt sich augenblicklich erleichtert. Er spricht ihre Sprache.
Maurice sagt: ich würde mal gerne eine deiner Stammkneipen kennenlernen, Paul, so ab und zu...
Paul lächelt. Sehr gerne, aber überlassen wir die Entscheidung vielleicht Hannah. Eine Stille schwillt an. Paul sagt: in eurem Café ist es aber an euch, Fragen zu stellen. Bitte.
Also gut, sagt Maurice. Wie verhält es sich denn mit deinen Begegnungen, Paul. Fallen sie dir leichter als Begegnungen mit uns?
Paul überlegt. Dann sagt er: wenn ich den Idioten treffe, fühle ich mich ihm sofort verwandt. Ich mag seine tiefe, ehrliche Orientierungslosigkeit, seine Verwirrung, denn er ist ihr direktes Abbild. Wir drei tauschen uns sehr abstrakt über unsere Zustände aus, unser Auftreten ist sehr sicher, wir haben uns im Griff. Dieser Widerspruch existiert beim Idioten nicht: inneres Zerwürfnis und äußere Gefaßtheit. Im Umgang mit ihm kann ich die Haltlosigkeit die ich empfinde unmittelbar erleben, obwohl ich natürlich dabei wie ihr die Haltung bewahre. Ich geh ja nicht durch die Straßen und tanze und singe oder trage ein Narrenhemd und eine Pappnase. Genausowenig raufst du dir wild die Haare, obwohl du dich mit deiner Arbeit der Verzweiflung widmest. Und Hannah steht ja auch nicht den ganzen Tag staunend an einem Gartentor herum, sondern ist eine kluge, selbstbeherrschte Frau. Auch wenn sie hinter dem Staunen des Kindes herspürt. Es ist ja auch gut so. Wir haben ja gottseidank ein Bewußtsein, das uns davor bewahrt, die Urbefindlichkeiten permanent ausleben zu müssen.
Hannah sagt: die meisten Menschen drängen ihr Bewußtsein heute ja wieder zurück und glorifizieren ihre unreflektierten Bedürfnisse. Sie nennen es spontan und verstecken darin ein rücksichtsloses und unverantwortliches Ausleben ihrer Triebe. Paul lächelt. Ja, unsere Zeit geht wieder auf die triebhafte Masse hin. Hannah wird lebhafter: da kannst du lächeln? Ist dir denn nicht an einer Kontrolle des Triebhaften gelegen? Sicher, sagt Paul, aber das Geistige ist mir nicht ganz so heilig wie dir. Ich vermerke halt mit Staunen, daß sich ja die meisten Leute bei ihrer Rückbesinnung auf ihre Urtriebe ganz wohl zu fühlen scheinen. Ich sehe überall einen Argwohn gegen das Bewußte sich breit machen. Das `gute feeling' ist angesagt. Und vielleicht ist diese Entwicklung ja die Antwort der Meute auf das Versagen des Geistes, auf den Bankrott des Humanismus, der eben nicht zu einer besseren Welt geführt hat. Der Geist müßte ja angesichts der Weltlage sein völliges Scheitern eingestehen. Er wird jetzt ja auch von der Genußsucht zurückgedrängt.
Maurice schaltet sich ein: ich halte uns drei ja auch für lebende Geistesfossile einer vergangenen Zeit. Wir lesen Bücher von Denkern, nicht Gurus, wir versuchen noch immer mit dem Denken die Rätsel des Menschseins zu beleuchten und nicht, indem wir die zeitgemäße psychodynamische Erfahrungsgruppe bilden, deren Mitglieder sich nur ihre emotionalen Erfahrungen gegenseitig bestätigen.
Paul sagt: wir suchen also die Verschiedenheiten menschlicher Bewältigung der Welt, die wir im Abstrakten austauschen. Und da muß ich euch gleich mal ans Leder: wie funktioniert denn euere Liebesbeziehung ohne Illusionen?
Hannah und Maurice blicken sich an. Maurice kontert: es ist an uns, Fragen zu stellen, hast du gesagt. Sag uns also lieber, wie sich dein Unabhängigkeitssarkasmus lebt.
Paul lacht. Rhetorisch einwandfrei, mein Herr, gratuliere. Du hast ja recht, es ist nicht immer so einfach ohne den anspornenden Kitzel eines Gegenübers, dem ich mich geistig und körperlich nähern möchte. Es fehlt mir sozusagen eine Affaire. Denn nur in so einer Affaire finden ja die extremen Hingaben, Verzichte und Dominanzen statt, die ein wirkliches Experiment erst ermöglichen, da man dann nichts mehr im Griff hat mit seinem Bewußtsein.
Hannah lächelt überlegen. Und so eine `Affaire' könntest du natürlich nur als Spiel erleben, nicht wahr. Paul zuckt mit den Schultern. Warum denn nicht, sagt er. Aber denk daran, daß so ein Spiel leicht doch ernst wird, liebe Hannah. Jedes Spiel bleibt ein Risiko, das einen die Seele kosten kann, ist es ein Spiel mit Menschen. Ich muß euch von Lisa erzählen. Ich habe sie vor kurzem kennengelernt. Sie ist mit einem wesentlich älteren Mann verheiratet und will an dieser Konvention, welche sie selbst belächelt, doch festhalten, denn sie weiß sich darin, nun, sagen wir `emotionaltechnisch' versorgt. Wir treffen uns oft, sind uns vertraut und angenehm. Vielleicht wird es eine Affaire, dann kann ich euch mehr sagen. Ich denke, daß die Gefühle in einer solchen Beziehung, die zunächst nur Spiel ist, doch zuletzt ganz ernst werden könnten, denn sie könnten sich eines Tages der Kontrolle entziehen, welche man im Spiel nie verlieren darf. Solch eine Affaire wäre also letztlich ein ähnliches Risiko wie eure Beziehung für euch.
Maurice lächelt süffisant. Hannah entgeht dieses Lächeln natürlich nicht. Sie fragt ihn: könntest du dir denn eine solche Affaire vorstellen? Maurice wird augenblicklich ernst. Nun, sagt er, wir sprechen da wohl von einer Affaire im Stil der guten, alten Zeit. Sicherlich ist so etwas nicht mehr ganz zeitgemäß und es dürfte Paul schwerfallen, eine Partnerin zu finden, die zu einer heimlichen Liaison noch fähig ist, die über den gewöhnlichen, sexuellen Seitensprung hinausgeht. Der heimliche Liebhaber, den man sich hält, dazu gehört doch eine ganze großbürgerliche Ambiente, die kaum mehr existiert.
Hannah unterbricht: weich nicht aus, Maurice. Ich meinte: könntest du dich selbst als Beteiligten in einer solchen Affaire vorstellen?
Maurice denkt nach. Wohl nicht, sagt er schließlich, denn ich bin ein schlechterer Lügner als Paul.
Paul schüttelt den Kopf. Lieber Maurice, du belügst dich selbst mindestens ebensogut wie ich und andere. Du bist nach außen der letzte Gerechte. Doch damit mußt du dich selbst belügen und damit natürlich auch andere, die deinem Wort glauben. Wie steht es denn mit deiner Neugier auf andere Frauen? Oder du Hannah: was ist mit der erotischen Ausstrahlung, die andere Männer auf dich ausüben? Und erzählt mir jetzt bloß nicht, daß es das nicht gibt, dazu seid ihr zu aufmerksam eurer Umgebung gegenüber, als daß ihr nicht manchmal in diesen Konflikt geratet. Wie löst ihr ihn dann? Geht ihr ein zweites Risiko ein, das Affairenspiel, neben eurem Spiel her? Damit würdet ihr riskieren, im schlimmsten Fall gleich zwei Spiele zu verlieren.
Hannah wendet sich aus der Runde etwas ab. Maurice und Paul reden miteinander. Ihr Blick fällt aus dem Fenster. Im Glas sieht sie Pauls Spiegelbild. Seine Worte haben in eine alte Bresche geschlagen: sie weiß um Pauls Interesse an ihr, das ihr einerseits schmeichelt, vor dem sie sich andererseits fürchtet. Sie erinnert sich an Abende mit Paul, wo eine wortlose Übereinkunft plötzlich im Raum war. Pauls Blicke schienen sie aufzugreifen und ihr vorzuhalten. Es war wie eine stille Aufforderung was Paul tat, wie er ihr nachschenkte, wie er aus dem Fenster sah, obwohl seine Worte nie so weit gegangen waren wie seine Gesten. Hannah betrachtet Paul, wie er mit Maurice redet, sie beobachtet ihn, er bemerkt es nicht im Gespräch mit Maurice, und Hannah hat Gelegenheit Empfindungen zu folgen, auf die sie nicht angesprochen werden wollte. Pauls Bewegungen, wenn er spricht. Seine Blicke, die sich blitzschnell aus einer Behauptung zurückziehen können. Seine freundliche Ironie. Er würde Maurice niemals wirklich angreifen, auch wenn er eben wieder seine bissig verschmitzten Sätze sagt. Seine ganze körperliche Haltung widerspricht seiner sprachlichen Angriffslust. Seine Bewegungen signalisieren eine sanfte Bereitschaft zur Nähe, und Hannah wäre vor langer Zeit schon, noch bevor sie Maurice kannte, dieser Bereitschaft entgegengekommen, wären da nicht Pauls Worte gewesen. Narrenworte. Sie betrachtet seinen Körper mit einer Neugierde, die ihr etwas unheimlich ist, denn sie verlangt nach einer Annäherung, für die Hannah noch der Mut fehlt. Darüber ärgert sie sich manchmal. Hat sie doch den Anspruch, ihre Neugierden mutig anzugehen. Etwas mit diesem Paul ist noch zu erledigen. Das ahnt Hannah. Es ist ihr ein unangenehmer Gedanke, doch sie ist aufgeregt, sobald sie Paul sieht. Sie wird sich nicht einfach abfinden können mit seiner Präsenz.
Wenden wir uns vom Detail wieder ab und ziehen den Vorhang über dieser Szene. Ein kurzer Moment Stille, die Lampen verlöscht, im Dunkeln hört man das Rücken und Poltern der Bühnentechnik, das Pausenlicht geht an, man setzt sich neu zurecht, hustet, schaut ins Programmheft, weiß plötzlich wieder wo man ist, atmet tief durch.
Das Pausenlicht verlöscht, im Dunkeln hebt sich der Vorhang mit einem Geräusch wie ein Atemholen, das unser Herz schneller macht. Die Lampen strahlen auf eine neue Szene. Dort steht mit einem Mal ein Conferencier. Er wartet den kurzen Beifall ab und beginnt:
"Paul geht durch seinen Stadtteil. Merkwürdig, wie fremd er hier geblieben ist. Zärtlich, wie ein Neuankömmling, schaut er zu. Paul ist einer der wenigen Menschen, die noch zur Seite treten um einem anderen Passanten Platz zu machen. Er hat auch mal eine Mark für einen Bittsteller. Je nach Laune. Paul macht daraus kein Prinzip.
Er liest in der Zeitung. Pauls Zeit, wie alle Zeiten, bereitet ständig einen Krieg vor. Es erschreckt ihn schon lange nicht mehr. Die Erkenntnis schreckt den Menschen ja nur im Moment des ersten Erkennens. Danach ist der Kopf klüger und eine angenehme Kühle beruhigt die vorlauten Ängste.
Paul liest nach, wie seine Zeit ihre Kriegsvorbereitungen betreibt. In Pauls Zeit der schnellreisenden Nachricht bedarf die kampflustige Horde besonders ausgetüftelter Strategien, um zuletzt endlich wieder zur Keule greifen zu können. Wir wollen es uns hier ersparen, die Strategien aufzuzählen, man braucht ja nur eine der Tageszeitungen zur Hand zu nehmen und hineinzusehen. Es genügt uns hier zu erwähnen, daß Paul die Umständlichkeit belustigt, mit der die Meute heute zur Keule zu greifen gezwungen ist. Daß sie zuletzt immer zu ihr greifen wird, das weiß Paul seit seiner frühen Jugend. Die Menschengruppen, die immer noch glauben man könne der Menschheit die Keule abgewöhnen oder sie gar zu einem freiwilligen Verzicht auf die Keule erziehen, hält Paul nur für eine der Ursachen für die hochgradige Komplexität der Anstrengungen, mittels derer der Menschheit der Griff zur Keule zuletzt doch wieder gelingt. Je klüger diese Menschengruppen vorgehen, desto komplexer müssen die Strategien sein, die zuletzt das Zuschlagen ermöglichen. Ihre kompliziertesten Organisationsformen verdankt die Menschheit ihrer Unfähigkeit, von der Keule zu lassen. Hier muß man den Gegensatz zum Denken aufzeigen: die kompliziertesten Gedankengebäude verdankt die Menschheit etwas anderem: der Neugier, die sich die Disziplin der Philosophie geschaffen hat. Und die ist keulenlos. Was den Menschen in der Natur auszeichnet, sagt Paul, ist, daß Einzelne es vermögen, von der Keule zu lassen. Die Masse Mensch ist aber immer eine heulende Horde geblieben für die andere Gesetzmäßigkeiten gelten wie für den Einzelnen. Sie ist nur umständlicher geworden, diese Masse. Sie bestraft sogar den, der ohne viel Umstände zu machen einfach zu seinem Vorteil zuschlägt, denn sie will sich als Masse schützen. Nicht, daß Paul dagegen etwas einzuwenden hätte. Doch es belustigt ihn, daß gerade die Moralisten der Nächstenliebe und der Jurisdiktion oft die allergrößten Keulenschläge vorbereiten und möglich machen. Dabei bleiben diese Damen und Herren auch noch völlig ernst. Paul wundert sich, daß der Großteil der Menschheit, zumindest der informierten, nicht ständig laut lachen muß. Natürlich ist es ihm klar, daß es sich um ernste Angelegenheiten handelt, doch lacht Paul ja nicht über den Krieg. Er lacht über die Tatsache, daß einer sich selbst und ihren Fortschritt so ernst nehmenden Menschheit die Tragikomik ihrer gesamten Bemühungen, und dazu zählt Paul auch die Philosophie, die Kunst und die Wissenschaften, entgeht."
Hier spielt die Kapelle einen bizarren Tanz. Eine Musik, wie wir sie etwa aus Bertolt Brechts Dreigroschenoper kennen. Darauf sagt der Conferencier: "Wir spielen Ihnen jetzt sieben kurze Szenen in rascher Folge vor. Sie werden sehen, wie sich die Zeit rafft und Ihnen sozusagen nur die Spitzen der nach außen fallenden Falten gezeigt werden. Bitte sehr!"
Erste Szene:
(Pauls erotische Ausstrahlung auf Hannah. Ein für Hannah unauflösliches Spannungsfeld, da sie Pauls Spiel fürchtet, das ihre Phantasiewelten zu bedrohen scheint, ihren Idealismus vom bewußten, aufgeklärten Menschen. Die Affaire von Paul und Lisa läßt Hannah keine Ruhe, auch wegen Maurice' Neugier, in der sie Maurice' Neugier auf einen Betrug an sich zu erkennen glaubt.)
In dieser Szene versteht man nicht, was die Personen miteinander sprechen.
Paul und Lisa, in sehr schicker Ausgehkleidung, sitzen an einem Tisch. Sie speisen gut. Sektgläser leuchten. Sie scherzen miteinander, ihr Umgang miteinander ist zärtlich. Gedämpftes Licht ist um sie her, sie sitzen in einem hellen Scheinwerferspot.
Maurice ist der Kellner, der die beiden bedient. Von Zeit zu Zeit erscheint er, gießt Sekt nach. Er kokettiert leicht mit Lisa. Paul scheint im Lokal Stammgast zu sein, denn er gibt sich mit dem Kellner vertraut und gelöst. Spricht ihn mit Vornamen an und Sie. (Man versteht, wie Paul Maurice' Namen sagt).
Hannah, in hochgeschlossenem Kleid, steht hinter der Bar. Sie sieht Paul von der Seite aus zu. Der Kellner geht ab und zu zu ihr hin, besorgt einen Gegenstand oder ein Getränk. Lächelt ihr zu, aber anders als Lisa. Er wendet sich den Sitzenden zu, einen Ellenbogen auf die Bar gestützt und schaut aufmerksam dem Gespräch der beiden zu, wobei er Hannah den Rücken zuwendet.
Zweite Szene:
(Hannah, Maurice, Paul und Lisa in normaler Kleidung. Im Gegensatz zur letzten Szene ist die Szenerie real. Eine Häuserfassade ist im Hintergrund zu sehen).
Paul stellt Lisa Maurice und Hannah vor. Man spricht ein wenig miteinander. Lisa sehr freundlich, Maurice sehr charmant. Paul und Lisa entfernen sich. Hannah und Maurice sehr still. Dann Hannah: du bist in diese Frau verliebt. Maurice: wie bitte?
Dritte Szene:
(Lisa und Paul im Bett, rauchen still. Man hört Geräusche, wie aus einem Hinterhof durchs offene Fenster. Manchmal Streitworte. Dann blicken sie sich an, lachen gedämpft).
Lisa: du bist ein Clown. Du stürzt dich mit mir in ein Abenteuer, in dem ich alle meine Sicherheiten riskiere, nur weil ich dort mit einem Menschen die Unbeschwertheit erleben kann, die es nur gibt, wenn es keine Verpflichtungen gibt. Dann bist du so rührend und aufrichtig zu mir, als ob du mich ernsthaft liebtest. Und sagst im nächsten Moment, unser Abenteuer sei nur ein Spiel.
Paul: wie sonst liebt ein Clown?
Vierte Szene:
(Maurice' Interesse an Pauls Liaison mit Lisa beunruhigt
Hannah. Sie befürchtet, Maurice könnte einer lange schon anstehenden Auflösung ihres Spannungsverhältnisses zu Paul zuvorkommen. Sie beschließt, die Sache zu klären und sich auf Paul einzulassen. Die Gelegenheit scheint günstig, da Paul ja jetzt Lisa hat und eine Affaire mit ihm ihre Verbindung zu Maurice dadurch weniger zu bedrohen scheint).
Hannah besucht Paul. Steht mit einem Mal in der Tür. Oh, guten Abend, sagt Paul. Eine hübsche Überraschung. Du hast mich ewige Zeiten schon nicht mehr zuhaus besucht.
Paul ist noch völlig ahnungslos. Sagt, nachdem sie sich gesetzt haben: du hast ein hübsches Kleid an. Weißt du, du kannst schon eine verdammt schöne Frau sein.
Hannah lächelt, und nun ist Paul nicht mehr ahnungslos. Er raucht, wie um einen Moment Bedenkzeit zu erhalten. Hannah hat ihn an der Tür umarmt. Das hat sie nicht mehr getan, seit sie Maurice kennt. Jetzt fällt es Paul auf. Hannah steht auf, geht umher, schaut sich in der Wohnung um. Ort ihres Betrugs, ihres Zuvorkommens, ihrer Rache an Maurice' bloßem Interesse am Betrug. Setzt sich auf Pauls Bett. Schlägt die Beine übereinander, lehnt sich mit dem Oberkörper zurück. Sie trägt ein Kleid mit sehr dünnen Schulterträgern. Sie schaut Paul tief in die Augen, lächelt leicht.
Paul sagt dunkel: willst du mich also verführen.
Sie antwortet: bitte sei still und komm her.
Paul fragt still: warum so plötzlich, Hannah?
Warum nicht? fragt sie.
Paul atmet tief ein. Er schaut sie traurig an.
Bitte nicht heut Abend, sagt er.
Warum nicht? wiederholt Hannah.
Nimm einfach an, ich hätte meine Tage, sagt Paul komisch. Hannah steht wütend auf und geht, ohne ein weiteres Wort.
Paul ist ihr noch in den Flur gefolgt, steht jetzt lange vor dem Spiegel. Darin: Paul, vor stummen Gegenständen. Er bemerkt, daß er weint. Lächelt sich zu und geht ab. Trauriger Narr.
Fünfte Szene:
(Hannah und Maurice haben Paul zufällig getroffen und sind in eine Kneipe gegangen. Maurice tritt aus).
Paul sagt zu Hannah: du konntest ja nicht wissen, daß gerade am Vormittag des Abends als du mich besucht hast Lisa das erste Mal bei mir war. Sie war über Nacht geblieben. Ich wollte dir und mir eine tragikomische Wiederholung ersparen. Vielleicht hätte ich es dir einfach sagen sollen. Und noch etwas hat mir nicht ganz gefallen...
(Maurice kommt zurück und unterbricht das Gespräch. Hannah ist durch Pauls Eröffnung nur noch mehr gekränkt).
Sechste Szene:
(Paul hat Maurice auf dessen Wunsch hin mit dem Idioten bekannt gemacht. Sie sitzen in Pauls Stammkneipe. Der Zustand des Idioten hat sich verschlimmert. Er spricht zu den beiden, wie zu einem großen Publikum):
Mein Sprach bleibt öd, hör ich Rufen im Kopf. Ich eß Welt, macht mir aber Bauchweh. Ich sterb ein langen Tod.
Maurice sagt anteilnehmend: Sie sind ein verzweifelter Mensch.
Der Idiot lacht: ach, junger Mann, was Sie denken. Ich bin ein glücklich Verlorener. Sehn Sie:
(er steigt auf einen Hocker und führt einen wackligen Hüpftanz auf, wobei er höflich Maurice zulächelt. Paul bestellt derweil noch einmal drei Limonaden. Der Idiot singt krächzend):
Ich binnen Stunden ein klein Kind
und armer alter Mann
und wo die sieben Winde wehn
ich nimmer sagen kann
Siebte Szene:
(Hannah und Maurice auf einem Balkon. Von unten Stadtgeräusche. Giebel und Antennen. Sehr viel Weite).
Hannah sagt wütend: warum kümmerst du dich so sehr um Pauls Bekanntschaften? Was willst du von diesem Idioten? Ein armer Alter, der sich nicht mehr wehren kann und ihr hockt vor ihm und spielt die besseren Menschen. Doch ihr könnt ihm ja auch nicht helfen. Und Lisa hat es dir wohl angetan, was, dir gefällt wohl die Idee des Verbotenen. Ein Nervenkitzel für den intellektuellen Biedermann, die Provokation des Verruchten, oder was?!
Maurice gibt zurück: laß mich doch Interesse haben an was ich will. Mit Lisa, da übertreibst du. Sie ist eine reizende Frau, na gut. Und? Und der Idiot ist ja kein fürchterlicher Auswegloser, an dem wir uns aufgeilen. Er ist ein höflicher alter Mann, der eben etwas verwirrt ist. Mein Gott. Paul ist rührend zu ihm. Und der Idiot mag ihn wirklich gerne. Glaubst du deine intellektuelle Distanz hilft diesem Mann eher? Ich möcht ihm halt auch wie einem Menschen begegnen. Du bist in letzter Zeit recht aggressiv gegen mich. Ich hab den Eindruck, du bist sehr unzufrieden. Aber mit was denn?
(Vorhang)
Paul hat einen freien Tag. Frei von Arbeit,von notwendigen Besorgungen, von Versprechen. Er hat sich vorgenommen, sich heute eine Lok zu kaufen. Weil er, wie viele Männer, als Junge Lokführer werden wollte. Viele Männer kaufen sich deshalb später, wenn sie dann endlich einen Sohn haben, eine Modelleisenbahnanlage. Da gibt es Schnellzüge, Signale, Bahnhöfe, Städte. Mit Autos, Menschenfigürchen, tausend Details und Vollautomation. Gründlich, wie die Deutschen.
Paul kauft sich aber nur eine Lok. Er wollte ja nicht Herrgott sein. Nur Lokführer.
Auf dem Weg zu einem Spielwarengeschäft trifft er Herrn Hölderlin. Auch der hat frei. Sein Kiosk ist an diesem Tag geschlossen. Er ist begeistert von Pauls Vorhaben und schließt sich ihm an. Wenn ich Sie nicht störe, sagt er. Aber nein, sagt Paul, ich kann ihren Ratschlag vielleicht brauchen.
Unterwegs treffen sie Hannah. Sie war auf dem weg zu Paul, denn sie wollte mit ihm reden. Wegen der Sache vor einigen Wochen. Gut, sagt Paul, vorher aber die Lok.
Die drei betreten einen Spielwarenladen. Paul sagt: guten Tag, ich möchte eine Lok kaufen. Eine kleine, im kleinsten Maßstab, den es gibt. Der Verkäufer bringt emsig einige Schachteln mit Loks. Breitet sie aus, erläutert. Er spricht alle drei abwechselnd an, auch Hannah, die etwas verwirrt dreinschaut. Er fragt: wollten Sie eine elektrische, eine Dampflok oder eine Diesellok?
Hannah sieht Paul an. Sie fragt sich in diesem Moment, die Nachbildung einer dieselgetriebenen Rangierlok haltend, ob sie sich nicht doch in ihrer Zuneigung zu diesem Menschen getäuscht hat. Paul untersucht gerade eine langgestreckte Dampflok. Hübsch, aber sicher sehr teuer, sagt er. Eine schöne Maschine, sagt er zum Verkäufer hin. Die 01, sagt der, bedeutsam. Hannah befürchtet, daß die Sache nun sehr lange dauern wird. Herr Hölderlin hat soeben begonnen, von Bahnfahrten aus seiner Jugend zu erzählen. Da zog die 01 noch den Schnellzug. Und so weiter. Doch Paul ist ein Mensch von schnellen Entschlüssen. Er sagt: ich nehm die Rangierlok. Er tut es, weil eine sehr zerbrechliche Hannah diese kleine Lok so nachdenklich in den Händen hält. Wie wird man jetzt den Hölderlin los, denkt Hannah.
Doch der muß zum Glück von ganz alleine noch zur Post und verabschiedet sich, nachdem er vor der Tür noch ein wenig von der 01 erzählt hat.
Hannah und Paul setzen sich in den Park. Hannah sagt: ich würde gern diese Sache hinter uns bringen, du wirst verstehen. Paul sagt: reden wir nicht viel davon. Vergessen wir den Abend einfach. Hannah bezweifelt, ob das so einfach möglich ist. Was willst du denn sonst tun, fragt Paul.
Hannah schweigt. Zum ersten Mal denkt sie, daß Paul vielleicht recht hat mit seiner manchmal etwas raschen Art. Es gibt Dinge, die lösen sich nur im Vergessen auf. Es gelingt ihr, Paul ungezwungen zuzulächeln. Paul lächelt zurück. Er sagt: hier, ich schenk dir meine Lok. Halt sie bitte in Ehren. Sie ist so klein und wird so leicht mißverstanden.
Das erste Mal nimmt Hannah eine Zärtlichkeit von Paul an. Sie beginnt, ihn zu begreifen.
Später fragt sie Maurice nach der kleinen, roten Rangierlok auf ihrem Bücherregal. Sie ist von Paul, sagt Hannah nur. Maurice versteht so viel, daß etwas Grundlegendes geschehen sein muß. Hübsch, sagt er.
Dorfstraße, Wind in Feldgräsern, Menschenleere, Besuch bei der Großmutter, in einem anderen Leben und doch in Pauls Leben, er erinnert sich, an den Dialekt, der dort gesprochen wird, auch zeitweise von ihm angenommen, um in dieser Gemeinschaft angenommen zu werden. Fremde Sprache dieser Dialekt, fremd was die Leute behaupteten, selbst die Landschaft war nicht das für was die Leute sie hielten, war anders als die Leute sie im Dialekt beschrieben, und doch konnte Paul mit ihnen reden. Daran lernte er früh, sich fremder Sprachen zu bedienen, meist zu einem Zweck allein: um zu funktionieren, um dabei ungestört in seinem Alleinsein verharren zu können, Abwehr des Alltäglichen, zwischen dem er unentdeckt sein konnte, weil er seine Sprachen des Alleinseins wohl zu hüten verstand, weil er nicht ausplauderte, mit welchen Zeichen aus Laut und Gesten er mit der Welt verkehrte, mit welchen Spielen er mit ihr umging. Sie sahen ihn am Wegrand mit Steinen spielen, den kleinen Paul, liebes Kind, spielt da so friedlich mit Steinchen, ein Bild, wie die Erwachsenen es mögen. Doch Pauls Spiele waren alles andere als friedlich, da wurde gestorben, vernichtet, von der Zeit vergessen, im Rausch von Jahren, von Orten, von erloschenen Herzblumen. Und eine Sprache hatte er gebabbelt, die große Vorgänge schildern wollte, allzugroße für ein Kind, und so waren die Bilder seiner Spiele schrecklich, wild, unbegreiflich. Viel unbegreiflicher für den kleinen Paul als die Rufe der Großmutter, herein zum Mittagessen, die Vorgänge seiner Spiele waren viel fremder als die Welt der anderen Menschen, der anderen Kinder und der Erwachsenen. Ihre Welt hatte Paul nie sonderlich interessiert, ihre Sorgen und Nöte erschienen ihm unwichtig, erklärbar, durchschaubar. Und überraschten ihn noch als Kind die Zusammenhänge der Erwachsenenwelt, so nur, um im Laufe seines jugendlichen Begreifens von ihm zuletzt als banal und langweilig entthront zu werden. Was dem kleinen Paul mit seinen Steinchen jedoch bleiben sollte, das war die wilde Unbegreiflichkeit seiner Sprachen und Spiele, in denen sich ihm eine andere Wahrheit mitzuteilen versuchte als die der Erwachsenen, eine andere Welt als die Karrieren, die Familiengeschehnisse, die Werdegänge der Mitschüler und späteren Autokäufe oder Urlaube der Kollegen, die Interessensgebiete der Kommilitonen. Schon der kleine Paul ahnte, daß sein einsames Weltspiel mit all diesen Vorgängen wenig gemein hatte. Und lang fand er in den Sprachen, die er des Funktionierens willen gelernt hatte, keine Worte, die sein Weltspiel in jene Funktionswelt hätten transportieren können. Doch das Bedürfnis, sein Weltspiel mit der Funktionswelt in Einklang zu bringen hatte Paul schließlich dazu gebracht, Zeichen aus der Funktionswelt in seinem Weltspiel einzuführen. Er wollte keine Trennung der beiden Welten, war er doch immer einer geblieben, Paul der Funktionierende zwischen Menschen und Paul, der Spieler eines merkwürdigen Spiels. Die Einheit seiner Person verlangte, daß er lernen sollte, die beiden Ebenen ineinander zu verweben, um nicht gespalten zu werden oder aus einer der beiden Ebenen verbannt, wie dies bei seinem späteren Freund, dem Idioten, der Fall war. So hatte Paul schließlich spät begonnen, die deutsche Sprache für seine Spiele zu entdecken, die er als Kind artig und gewissenhaft in Laut und Schrift erlernt hatte, um ein guter Junge zu sein. Er hatte begonnen, in dieser Sprache die wilde Unbegreiflichkeit seiner Spiele festzuhalten, die bewegten Bilder zu beschreiben, die früher zu seinem Spiel mit den unscheinbaren Steinchen geführt hatten. Und so wurde aus dem kleinen, das Unbegreifliche im Spiel ausführenden Paul der nachdenkliche, jugendliche Paul der versuchte, mit den Zeichen der deutschen Sprache das Unbegreifliche zu beschreiben, zu benennen, zu ordnen. Er erkannte, daß die Wildheit seiner Spiele die Wildheit der Weltgesetze vom Werden und Vergehen in ewigem Kampf war, das Unbegreifliche seiner Spiele der Tod, das letzte Unbegreifbare.
Seine Spiele wurden langsam von einer gewissen Fertigkeit, grundsätzliche Gesetzmäßigkeiten arbeiteten sich in der Klarheit der Sprache heraus und konnten zielfertig eingesetzt werden. Auch lernte er, mit seinen Kräften hauszuhalten, überraschende Verlorenheiten zu überstehen, Zeitlöcher der Langeweile zu überbrücken, den Riß zwischen Funktionswelt und der Welt des bloßen Daseins zusammenzuhalten. Paul lernte beide Welten nicht allzuernst zu nehmen, da ihm der Übergang aus der einen in die andere immer leichter gelang und er sich damit vor den Sorgen der einen und den Verlorenheiten der anderen wohl zu schützen verstand. Es genügte ja ein leichter Seitenschritt aus der einen in die andere Welt, eben jener Seitenschritt, den Hannah an ihm nicht verstand und der sie gegen ihn mißtrauisch machte, da sie nie begriff, warum Paul weder von Alltagssorgen noch von Verlorenheiten allzusehr angegriffen wurde.
Doch im Grunde ist Paul, wie Maurice, ein Leichtverletzter. Nur findet Paul schnell wieder auf die Beine zurück. Er hat Übung darin, denn er fällt oft.
Hannah besucht Paul. Paul hat den ganzen Nachmittag auf seinem Bett gelegen. Trotzig. Gegen den Drang aufzustehen und sich irgendeinem Tun zu widmen. Er betrachtet die Tapete. Sie ist weiß. Paul ist ein Pilot, der über eine verschneite Landschaft fliegt. Er will den Schnee wegräumen und sehn, was das für eine Landschaft ist.
Er nimmt einen Bleistift und zeichnet zunächst eine Straße durch die kleinen, weißen Hügel der Rauhfaser. Wie er es von Landkarten kennt. Er zeichnet Städte ein. Wälder. Eisenbahntrassen, Industriekomplexe, Autobahnen. Da wächst eine Kultur heran. Paul schreckt auf: er hat die Gewässer vergessen. Kanäle, Baggerseen, Kläranlagen. Dann ein Fluß.
Er entwirft gerade ein Autobahnkreuz, da klingelt es an der Tür. Paul schnallt sich los, geht durch die enge Gangway zur Tür. Vor seinem Flugzeug steht Hannah.
Guten Abend.
Ist schon Abend?
Ja. Hast du die Zeit vergessen?
Komm rein.
Sie setzen sich an den Tisch. Hannah schaut nach der Landkarte auf Pauls Tapete.
Du malst ein Land?
Paul lacht. Ich bin Archäologe und grabe im ewigen Eis eines vergletscherten Planeten eine jahrmillionen alte Kultur aus. Nahezu unbeschädigt. Das Eis, weißt du.
Hannah blickt ihn an.
Paul fragt: hast du je einem Ameisenvolk zugesehen? Plötzlich wird man da zum Außerirdischen, der zum ersten Mal eine irdische Kultur überfliegt. All dieses scheinbar ziellose Bemühen. Da fallen einem die tollsten Geschichten ein.
Ja? fragt Hannah.
Weißt du, ich erzähle dir einfach einmal eine davon, sagt Paul, wenn du willst.
Hannah will. Und so erzählt Paul ihr eine seiner Ameisenhaufengeschichten:
Ashara. Weibliches Land, dessen Grenzen offen liegen wie Wunden, in welche die Feinde zu oft einfallen, als daß sie verkrusten könnten. Land an zwei Meeren: der große Ozean im Westen, das wilde Nordmeer. Ashara bedeutet: Regen. In der Sprache seiner Bewohner.
In den Gärten des jungen Königs die Begegnung zweier Menschen. Blicke. Schweigen. Nicht die vorschnelle Verbrüderung der Wankelmütigen. Taju, der junge König. Letzter eines Geschlechts. Das Asharas Ländereien eroberte. Wütende Feldzüge. Geschichte geworden. Dolche und Gift, die das Leben der Könige verkürzten. Sage geworden. Toran, der Schreckliche, der Schlächter. Asharakide. Ermordet in seinen Gärten. Achaijas, der Einiger der versprengten Provinzen. Vierundzwanzig Jahre glänzendster Herrschaft. Dann der geheimnisumwitterte Tod im Feldlager am Fuße eines Gebirgs. Das er nie ünerschritt. Chroniken gefüllt mit Siegen, mit Grausamkeiten. Junges Ashara mit alten, furchtbaren Königen. Männern. Taju liest einige Stunden am Tag in den Geschichtsbüchern. Junger König eines alten Ashara. Das keine zornigen Heere mehr besitzt. Müde ist vom Blut der Wehrlosen. Seit Generationen. Generationen die Shuimaja gesehen hat, der Uralte, der in Tajus Augen blickt in den Gärten des Palasts. Shuimaja, die alte Weisheit die Ashara weitergibt. Nicht die Macht. Die fällt wie ein Kartenhaus, wie eine Reihe Lanzenträger.
Taju hat Befehle erlassen. Die Randprovinzen den Feinden zu überlassen. Ohne Kampf. Ohne das sinnlose Sterben Tausender. Die wunden Grenzen den Feinden öffnnen, damit ihr Zorn sich besänftige im Anblick der kranken Länder, die sie berennen ohne sie zu kennen. Wird es ihre Rachegelüste befriedigen? Keiner weiß es zu sagen. Doch Taju entschied sich für das riskante Experiment: die Verkleinerung des Reichs für das Leben von Tausenden. Taju, der milde, einsame König. Die Männer in den Heeren, die jahrelang gekämpft haben, verstehen seine Befehle nicht. Obschon sie durch sie leben. Zurückkehren in eine Heimat, die still liegt, unberührt vom Lärm der großen Rückzugsschlachten. Heimat, die die Nichtverstehenden mit freudig geöffneten Armen aufnehmen will. Doch die Männer mißtrauen der Stille. Haben zu lange im unaufhörlichen Schlachtenlärm geschlafen, gegessen, ihre Arbeit verrichtet. Selbstverständlichkeit. Was ist das für ein König, der sie in einen Frieden ruft, den sie verlernt haben?
Shuimaja brauchte Taju nicht zu warnen vor der Unzufriedenheit der entlassenen Heere. Taju kennt den Menschen. Seinen Drang, seine Wut, welche die Stille nicht hinnehmen können. Er erläßt neue Befehle. Läßt im Landesinneren Schutzwälle anlegen um die Städte. Läßt die Ernte einbringen und in öffentlichen Zeughäusern verwahren. Läßt Straßen bauen. Öffentliche Anlagen, Gärten, Bäder, Bibliotheken. Läßt den immensen Reichtum Asharas auf die Städte verteilen. Auf die Provinzen. Die Bürgermeister erhalten große Gelder. Sollen die Heimgekehrten selbst entscheiden, wie sie den Reichtum sinnvoll verwenden wollen. Viele bauen Festungen. Die Feinde könnten die ungeschützten Grenzen überschreiten. Taju läßt seine Generale einen Verteidigungsplan erarbeiten: kein stehendes Großheer. Kleine, mobile Schutztruppen. Die Feinde sollen es nirgendwo einfach haben. Ein Großheer kann umgangen werden. Die Kunst der Täuschung. Gelingt sie, so kann man ungehindert plündern, brandschanzen, vergewaltigen. Das soll verhindert werden. Großheere haben es nie verhindert in Asharas Geschichte. Sagt Taju zu seinen Generalen. Die ihn nicht verstehen. Sagt es den Bürgermeistern, die lieber ein Großheer in ihrer Nähe wüßten, das die Stadt schützt. In ihrer Nähe, wohlgemerkt, nicht in der einer anderen Stadt. Taju hält es ihnen vor. Sie können nichts dagegen vorbringen. Doch in den Augen der Generale bleiben Skepsis und Verwunderung. In den Gesichtern der Bürgermeister unstillbare Angst. Dabei wurden ihre Städte geplündert, während noch ein Großheer die viel zu langen Grenzen schützen sollte. Taju weißt sie darauf hin. Ihre Gesichter verziehen sich zwischen Einsicht und trotziger Angst. Taju schickt sie an die Arbeit. Er weiß, daß sie ihn hassen, sobald er ihnen den Rücken zukehrt.
Die Armeen der Feinde marschieren durch die geräumten Randprovinzen des Reiches auf das neue, verkleinerte Ashara zu. Interessieren sich nicht für diese von Aushebungen und Zwangsrequirierungen ausgebluteten Ländereien. Gieren nach Gold. Nach vollen Zeughäusern. Das reiche Ashara. Taju schickt seine Gesandten hin. Läßt den Generalen der Feinde erklären, man werde jede Stadt entschlossen verteidigen, falls die feindlichen Heere die die Grenzen überschreiten sollten. Man sei vorbereitet. Man sei jedoch ferner bereit, Reparationsgelder zu bezahlen, falls sich die Generale für den Frieden entscheiden sollten. Man sei ein Volk, das arbeiten könne und bezahlen. Über lange Jahre hinweg, zumal man das selbst begangene Unrecht tilgen wolle. Halbjährliche Gelder in die im Übrigen doch recht erschöpften Länder der Feinde, an denen sie leichter genesen könnten als an einmaliger Beute.
Die Generale überlegen. Noch ist Ashara mächtig. Nicht in wenigen Monaten zu bezwingen. Und lange schon dauert der Feldzug. Dazu hört man von neuen, mächtigen Festungswällen um alle Städte, von schnellen Truppen auf guten Nachschubsstraßen. Das muß bedacht werden. Kein asharakidisches Großheer erwartet die Invasionstruppen. Was soll ein General tun, der keinen Gegner vorfindet, aber ein unüberschaubares Netz von Entschlossenheit, in dem sich die eigenen Großheere verstricken können, ohne einen wirklichen Erfolg zu erreichen?
Die Gesandten kehren ohne eine Antwort zu Taju zurück. Er hat es erwartet, doch seine Generale werden unruhig. Die Großheere der Feinde an den Grenzen. Wenige Tagesmärsche von den Städten im Osten. Was werden sie dort denken? Läßt der König seine östlichen Städte im Stich?
Taju geht in den Gärten. Lauscht auf den Regen. Wie als er Kind war. Denkt an die Heerlager der Feinde an den Grenzen, wo sie jetzt gedrängt in den Zelten sitzen. Um ein Feuer. Wo sie es warm haben und nicht ans Töten denken. Wo sie lachen und laut reden. Einer kommt herein und schüttelt sich das Wasser vom Mantel. Man macht ihm Platz, daß er am Feuer sitzen kann.
Selbstverständlichkeit. Der da war draußen, friert, ist naß, laßt ihn ans Feuer. Taju stellt sich die Gesichter vor. Die trockenen und das nasse Gesicht, mit dem sie unmittelbar Mitleid empfinden. Dem sie ohne einen Gedanken Platz machen. Haben es selbst erlebt was es bedeutet, naß an ein Feuer zu treten. Jeder hat es erlebt. In den Wirtshäusern und Gehöften im ganzen Land spielt sich in diesen Stunden Ähnliches ab. Du hast geforen. Du hast Hunger, bist naß. Wärm dich am Feuer. Iß. Rede nicht, es strengt dich nur an. Wortlose Übereinkunft.
Dort geht Taju im Regen. Lange her, daß er in warmen Armen lag, seinen Kopf an runde Haut gelegt an einer Schulter. Fand so selten zu einem Frieden dort. Ahnte Wünsche, die er nie würde einlösen können. Friede der Hütten, der einfachen Strohdächer über den Köpfen zweier Menschen. Eines Mannes und einer Frau. Und ein Leben lang. Ein fragendes Singen in seinem Kopf ließ ihn die Unwahrhaftigkeit eines solchen Friedens ahnen. Der ja so leicht zerbrechen kann. Taju schrieb den Frauen, um die er oder die um ihn geworben hatten, damit sie um dieses Singen in seinem Kopf wüßten, um diese wortlose Frage, die nicht von ihm ließ, sobald er sich einer Stille hingab. Die Frauen antworteten mit Umarmungen, so, wie man Kinder umarmt, die weinend aus einem Alptraum erwacht sind. Gute Frauen, mit so großen Herzen. Und konnten ihn doch nicht trösten. So sanft sie ihn wiegten, so geduldig sie ihm zuhörten wenn er versuchte, von seiner Unruhe zu erzählen, die nur durch einen festen Schwur zum Frieden gebracht werden konnte, von einer Hingabe. Sie verstanden nicht. Sie spielten das freie Spiel der freien Liebe. So verließ er sie. Um sie nicht ein Leben lang zu betrügen in einem Frieden, den sein Herz nicht zu teilen vermochte, denn er war ihm zu leicht, ohne Gewicht und schnell verweht. Fand nur Trost in den Worten der Dichter, aus denen dieses Singen klang, das dem Horizont gilt, dem Raum zwischen den Sternennadeln. Einzige Frage, immer neu gestellt durch die Jahrhunderte. Durch die Kulturen. Was es ist, ein Mensch zu sein. Ein ewig Suchender, der nie die letzte Antwort weiß. Der die Aussichtslosigkeit seines Bemühens erkennen kann und doch weiter muß. Der verdammt, Bewegung zu sein, die über den Horizont greift, um dahinter nur einen neuen zu finden. Menschlicher Geist, dem es unmöglich, eine letzte Grenze zu denken, ohne die Räume dahinter bereits zu erahnen. Und treibt ihn seine Neugier, sie zu erkunden. Und er kann nicht ruhen, keinen Frieden finden an einer wohlmeinenden Schulter. Nur für Momente. Momente eines imaginären, längst verlorenen Glücks. Das zerbrechlich ohne einen Schwur.
Tajus Abende gehören den Chroniken. Den Worten der Philosophen, Historiker, Dichter, der Baumeister. Der Weitgereisten. Der Phantasten. Räsonierenden. Vielfalt von Denken und Welt, die auf Pergament Zeichen wurde. In Handschriften. Die eine andere Weltgeschichte erzählen als Asharas Heere. Eine stille Geschichte, in einsamen Stunden erarbeitet. Erlitten. Selbst in Ashara kennen sie die wenigsten. Alle kennen die Siege und Niederlagen der Heere. Der wird gehört, der lauter brüllt: der Krieg.
Taju liest in den Werken der Dichter, denn sie gelten dem Moment, den jeder Mensch kennt, den jedoch die meisten Menschen zu sehr fürchten, um sich ihm stellen zu können: Dem Moment, wenn der Mensch ganz alleine steht. Mitten unter Tausenden anderer und doch für sich. Mitten in einer wichtigen Aufgabe etwa, die ihn in die Menschengemeinschaft einreiht. Plötzlich steht der Mensch in diesem Moment ganz allein da. Mag nicht mehr kämpfen, mag nicht mehr weiter. Nur noch diesem Moment lauschen. In dem er die Weite der Zeit fühlt. Als sei sie ewig. Als gäbe es keine Brücken mehr hinaus. Was seine Hände berühren läßt sich nicht mehr fassen wie zuvor, er berührt es, doch es spottet ihm. Sinnlos, sinnlos sein Griff nach den Dingen. Was vermag er? Die Zeit lächelt nur darüber. Und nur in diesem Moment begreift der Mensch, was er in der großen Zeit ist. Was ist er im Taumel der Jahrtausende? Was gilt dort seine Arbeit, was ein Sieg der Heere Asharas?
Taju liest von den Siegen der Heere in alter Zeit. Was bedeuten sie ihm? Längst untergegangen sind die alten Reiche. Doch die Worte der Dichter der alten Zeit rühren ihn. Erwecken sie doch in ihm den Moment der Zeit. Lassen sie diesen auferstehen nach Tausenden von Jahren. In Taju. Was blieb aus den Jahrtausenden sind nicht die Siege der Heere, der Glanz der alten Reiche. Zerbröckelt stehen die Ruinen im Wind. Es sind die Momente der Zeit, die blieben. Zeichen auf dem Pergament, die sprechen.
Zart bricht die Sonne
ihre ersten Flügel am Morgen
die Blätter am Boden
vom Herbst sie trinken
ein letztes Mal
das zerbrechliche Licht
ich gehe wortlos darüber hin
Shuimaja betritt des jungen Königs Kammer. Ihr schlaft noch nicht? Er ist besorgt um Tajus Gesundheit, weiß er doch, welche Sorgen den König beunruhigen. Taju blickt auf, lächelt. Wie lange schon hat Ashara keinen König mehr gehabt, der so lächelte. Shuimaja überlebte drei Könige. Er denkt, daß er Taju nicht mehr überleben wird. Und ahnt, daß nach Taju kein König mehr kommen wird, der so lächelt.
Zu sehr gespalten ist das alte Ashara. Aus dem stillen Regen wurde ein Sturm. In einer stürmischen Nacht wurde Taju geboren. An einem stürmischen Tag zum König gekrönt. An einem stürmischen Tag wird er gestürzt werden, denkt Shuimaja. Der junge König, der lieber dem Regen lauscht, als dem Sturm trotzt.
Du hast recht, ich bin sehr, sehr müde. Taju erhebt sich. Laß uns noch ein wenig auf den Mauern gehen.
Die Nacht ist klar. Nur weit am Horizont ballen sich Wolken. Dort liegen die Heerlager der Feinde. Hinter dem anderen Horizont liegt das Meer. Taju sagt es ruhig. Könnt es immer Nacht bleiben! Alte Worte, von einem so jungen König. Eine merkwürdige Zeit, die die Jungen so schnell alt macht, sagt Shuimaja. Eine wahre Zeit, sagt Taju. Shuimaja blickt den König stumm an. Dann nickt er. Werdet Ihr schlafen, fragt er. Sicher, sagt Taju lächelnd. Am Morgen will ich die Pflege der Gärten überwachen. Danach kommen die Generale. Ich habe neue Befehle für sie, die ihnen gefallen werden. Ashara wird nicht bange auf seinen Untergang warten.
Doch es ist später, als du denkst. Noch in derselben Nacht kamen die Häscher eines Zornigen, der sich zum König ausrufen sollte. Nie entkommt ein König den Häschern des neuen Königs. Doch wurde Taju gerettet: durch seinen Ruf, ein Träumer zu sein. Verträumt das Reich, ist weich wie ein Weib. Sie fürchten einen Träumer nicht. Ihre Rache wird weniger gründlich.
Taju entkam im ersten Aufruhr der Revolte auf Bitten des Shuimaja, der es ablehnte zu folgen. Sie würden trotz allem Blut fließen sehen wollen. Und der Alte war bereit zu sterben. Er nannte Taju einen Fischer, der ihm ein karges Steinhaus an Asharas Nordküste überlassen würde. Ihr Schicksal vorausahnend hatte Shuimaja alles veranlaßt. Seine Nichte allein begleitete Taju auf seiner Flucht. Es bedurfte weniger Stunden nur, und die beiden waren einander Begleiter ihres Lebens geworden. Taju nannte sie: Shuima. In Asharas Sprache bedeutet es: Wind. Es war darin sein Dank für den Alten enthalten.
Sie weinten still zusammen, als sie die Nachricht von Shuimajas Tod erreichte. Taju erzählte ihr Shuimajas Abschiedsworte: ich bin fast blind. Soll ich an meinem Lebensabend am Meere stehn und den Sonnenuntergang nicht sehen? Laß nur! Ich betrachte lieber in Stille meine Kerze am Abend. Sie ist beinahe schon heruntergebrannt.
Shuima verstand die Worte. Sie schrieb ihren Schmerz in die Worte der Poesie.
Sie lebten zusammen in der stürmischen Stille des Fischerhauses an Asharas Nordküste. Sie teilten ihre Gedanken und Träume. So wurde Taju bewahrt vor dem Los der Einsamkeit.
In seinem Exil am Nordmeer schrieb Taju das Buch der Würde, das Buch der Besinnlichkeit, das Buch des Suchenden, das Buch der Stille, das Buch der Ornamente aus Geist, das Buch des Windes, das Buch des Regens, das Buch der Töne. So wird berichtet. Nach seinem Tode soll Shuima von den Büchern gesprochen haben. Doch wurden sie nie gefunden. Shuima hatte sie auf Tajus letzten Wusch verbrannt.
Als sie starb fand man in ihrer Hand auf dem Sterbebett ein Blatt mit seinen Schriftzügen:
fein webt der Geist sein Netz
in Zeit und Wind
die Maschen unsichtbar
wohin mein Auge fällt
ist ein Gedanke wach
stellt die Frage leis
deren Antwort keiner weiß
so schlägt mein Herz
mich fort von Blick
zu Blick kaum
daß ich mich erinnerte
nur vage stehn die Halme leicht
im Wind gebrochen
Hannah sieht Paul schweigend an. Solche Geschichten denkst du dir aus? sagt sie nach einer Weile.
Paul lächelt nachdenklich. Er sagt: hinter allen Spielen liegt ein Ernst, eine Endgültigkeit. Du hast mir nie zugetraut das zu wissen, nicht?
Warum versteckst du den Ernst so sehr, fragt Hannah, wenn er doch auch in deinen Spielen ist?
Er macht mich zu schwer, sagt Paul, zur angstgeschüttelten Puppe. Durch das Spiel erst bin ich so etwas wie eine eigene, kleine Bewegung. Eine sehr kleine allerdings.
Deine Geschichte vom jungen König ist sehr dunkel, weißt du, sagt Hannah. Nichts bleibt von ihm übrig.
Es bleibt nichts von uns übrig, sagt Paul.
Es ist dunkel geworden draußen. Ein schimmerndes Schwarz steht in den Fenstern. Paul macht eine kleine Lampe an. Sie rauchen schweigend.
Von draußen klingen gedämpft die Geräusche der Stadt herein. Wie eine Musik, wie die Geräusche eines Fests beim Nachbarn, die man durch die zu dünnen Wände vernimmt. Paul hustet, nur um auch ein Geräusch zu machen.
S p ä t h e r b s t b l ä t t e r
r b s t b l
Bergmannstraße
Berlin
Montag, 10.11.86
Da steht wie ein bestelltes Aufgebot die Schreibmaschine, mit ihrem leeren Blatt im Maul und wartet stumm, denn die Hochzeit findet nicht statt, die Gedanken wollen sich nicht vermählen, bleiben bockig, stehen schmollend in den Ecken umher und sehen nicht zueinander hin.
Das Altern ist ja der Auftrag Spiele zu erfinden, die den innersten, noch ziellosen Antrieb abzubauen verstehen, diesen Drang, der wir sind, noch bevor wir dem anderen begegnen, noch bevor wir uns als gezogen erfahren, getrieben in Richtungen, die wir selbst vielleicht nicht gewählt hätten, nur weil da anderes ist, weil da andere sind, auf die wir wirken, wir wissen es und wollen ja nicht die falsche Wirkung erzeugen, wollen keine Irrtümer, Mißverständnisse, wollen nicht verlacht werden, wollen etwas gelten dort beim anderen, wollen unsere Spur dort hinterlassen. Und doch kann man es ja nicht allem und jedem recht machen und wir verheddern uns aussichtslos, geraten in den Strudel unserer Vorsicht, unserer Lügen und Schwindeleien aus Not, in die Abgründe unserer Abhängigkeiten von der Gunst anderer, die uns zu Hochseilakten zwingt.
Doch vor all dem war das Spiel. Das intrigenfreie, aus sich selbst geborene, zum Tun gebrachte Angetriebensein. Da war eine Neugier auf die Welt, ein Drang, sich seiner selbst und seiner Möglichkeiten zu bedienen, sich zu bewegen, Hände, Mund, Denken, Vorstellungswelt. Da waren Tagträume, die keine unerfüllten Wünsche zum Inhalt hatten, sondern die nur spielten, die Möglichkeiten durchliefen weil es diese gibt, weil es lustvoll ist sie durchzudenken, den Bereich abzustecken, den die abstrakte Vorstellung noch erreichen kann und der so weit ist, daß wir längst nicht mehr erwarten, ihn noch in der Wirklichkeit erleben zu können.
An ihrer eigenen Einfallslosigkeit werden uns die anderen schal, wir sitzen vor ihnen und sie langweilen uns im Grunde nur noch mit ihren lächerlichen Anekdoten, über die wir hinausgreifen wollen, damit unser Denken nicht verklebt wie bei einem Gang durch eine Eigenheimvorstadt. Wir brauchen uns nur auf unsere Spiele zu berufen, schon hebt eine leichte Faszination unsere Beine, schon lassen wir die trübsinnigen anderen weit hinter uns und jagen mit der immer schneller werdenden Welt davon, bleiben auf dem Laufenden und ertrinken nicht in der Gewordenheit, die noch zu fressen bleibt und die so schwer verdaulich ist.
Als Spiel bezeichnen wir hier nicht das stellvertretende Ausprobieren einer Strategie, nicht die Etüde, nicht die Kopie und nicht den reglementierten, verkodisierten Wettbewerb, der unblutig den Besten ermitteln will.
Wir verstehen darunter das zu einem Tun werdende Sichregen-Wollen des Geistes, welches als völlig unmotiviertes Phänomen aus sich heraus vorliegt, zunächst keinem Zweck folgt, sondern das erste ist was wir in einem Menschen vorfinden, zusammen mit der Urangst, die in entgegengesetzter Richtung wirkt. Es ist das im Menschen, das ihn in die Welt hinaustreibt ohne ihm aufzutragen, sie zu erobern, sondern nur, sie auszukundschaften. Ein Ausdehnen, das nicht Macht werden will, sondern nur Bewegung.
Die spielerische Bewegung ist lustvolle Auflösung dieses Sich-regen-Wollens des Menschen. Sie hat eine körperliche und eine geistige Komponente, doch tendiert zuletzt zum bloß Abstrakten. Sie bleibt bis zuletzt immer auch körperlich, denn es ist der Körper mit seiner sinnlichen Wahrnehmung, der der erste Schlüssel des Menschen zur Welt ist. Ohne die Wahrnehmung verfügte der Geist nicht über die Spielsteine des Abstrakten. Er hinge völlig leer, von der Verdammung zur absoluten Unbeweglichkeit unendlich gequält, im Schwarz, im Geräuschlosen, in der Bewegungslosigkeit, ohne Zeit und Raum zu kennen. Der Geist wäre dann nur Qual. Ein festgehaltenes Sichregen-Wollen. Ein physikalisches, metyphysisches Potential, das keine Entladung erführe und unter diesem Zustand entsetzlich litte, man braucht nur daran zu denken, wie furchtbar die Langeweile sein kann und wie unendlich befreiend und lustvoll ein Spiel ist.
Man will im Alter nicht mehr erklären, man wird der Anekdoten müde, deren Strukturen man längst durchschaut, ebenso wie man die Wiederholungen der eigenen Lebenskatastrophen begriffen hat, die Kreise der eigenen Psychologie, die Determinanten des eigenen Verhaltens. Und doch bleibt ein Bedürfnis, sich zu regen. Diese Regung ist nur im Spiel möglich, sonst macht man sich als alternder Möchtegernabenteurer lächerlich.
Taju, der junge König, erfand das Spiel der Ornamente aus Geist, das Schreiben. Paul erfand Taju, erfand sich die Spiele vom Idioten, vom Herrn Hölderlin, von der großen und der kleinen Zeit, von den Ameisenkulturen.
Maurice erfand sich das dunkle Singen, das sternenschwarze Nichts, den rotbebenden Schrei seines Herzens, sein ewiges Weiter.
Hannah erfand sich ihre Begleiter, erfand sich Maurice, erfand sich eine Bewegung mit ihm, ein Schreiten in die Welt.
Ich habe sie alle erfunden. Die Spiele mit ihnen, zwischen ihnen. Habe sie erfunden, um meine Biographie im Spiel ihrer Situationen, ihrer Verstrickungen gelingen zu lassen. Den tänzelnden, gerade noch die Balance haltenden. Paul, um mit ihm gerade noch die Balance zu halten. Den in der Leichtigkeit verlorenen Idioten, um mit ihm in der Leichtigkeit verloren sein zu können. Den mit dem Mut der Verzweiflung nach dem Dunklen forschenden Maurice. Die mit hellen Idealen in die Welt hinausschreitende Hannah. Den jungen König Taju aus Pauls Geschichte, der aus der großen Zeit in die Geschichte spricht und der mit mir die Endgültigkeit spielt. Alle sind sie Figuren eines Spiels, in dem ich Welt spiele.
Dienstag
heller Himmel
Hinterhof
Ein Spiel:
Sich selbst zur Figur machen, sich hineinkomponieren in die Welt, vor die Tür treten ins Tageslicht und denken: da stand er vor der Tür; wohin sollte er sich wenden?
Die eigene Biographie ist ein noch laufender Roman, geschrieben in kurzen Abrissen, Gedanken, kaum eine Zeile lang, Blicke, kurz wie ein Wort und ebenso allein und heftig und ohne Zusammenhang. Episoden die untergehn wie eine gerauchte Zigarette, vergessen.
Morgens wacht man auf und der Wahrnehmungsapparat wird neu gespeist, darin noch eine Linie einfädeln zu müssen wird zu einer Aufgabe, die immer schwerer gelingt, wenn man sich nicht nur auf die Notwendigkeiten verläßt wie auf Arbeit, Nahrung, Reinlichkeit. Noch traumschwer hebt man zum ersten Mal den Kopf, blickt quasi aus der großen Zeit der Traumzusammenhänge in die kleine Zeit der Tagesepisoden, wird wieder Momentmensch, dies tun, das tun, die langen Gedanken und die durch die Zeit greifenden Empfindungen der Träume und des ruhenden Liegens enden jäh an den kurzlebigen ersten Schritten in den Tagesablauf. Die kleine Zeit perlt kristallklar und glashart in die Sinne und damit ins Denken, die Geschwindigkeit ist geboren.
Man wird forwärtsgerissen in die Momentfabrik der kleinen Zeit und möchte doch träge und tief atmend noch einen Moment oder zwei in der großen Zeit verharren, warten, welche Impulse einem die eigene Neugier eingeben würde, mit denen man die kleine Zeit selbst füllen würde, freudiger, als im marionettenhaften Zucken an den Fäden der Notwendigkeit. Wer da herauswill, der fängt am besten ein Spiel an.
Ein Spiel beginnt man am besten in den Räumen aus Erinnerung, im langatmigem Zeitempfinden, der Losgelöstheit aus den schnellen Momenten der kleinen Zeit. Aus einer Befindlichkeit des Danebenstehens heraus. Da steht man zwischen den Gegenständen, den schweigenden Zimmerwänden, zu denen der Mensch auf eine Weise so gar nicht gehört, zu denen er mit seinem Menschsein in überhaupt keinem Zusammenhang ist, die ihm fremd und unerreichbar sind. Die ihm in der großen Zeit unter den Fingern zerbröseln zu Begriffen, die er endlos aufzählen kann. Himmel, Hinterhof, Wand, Lampe, Zimmer. Ja und? Man wartet still. Und plötzlich legt sich ein Lächeln auf die Mundwinkel, eine Idee, ein Aufbruch. Ein Tun kündigt sich da an. Die große Zeit von einer frechen Nadel durchstochen, dem Klick eines Moments. Paul. Der plötzlich auf der Rauhfasertapete, auf die er momentelang gestarrt hat, eine eingeschneite Kultur erkennt, die er ausgraben will.
Wer spielt macht seine eigene kleine Zeit. Er produziert eigene schnelle Momente, die ihn auf die Geschwindigkei der Welt beschleunigen können. (Die Geschwindigkeit der Welt ist die rasche Folge einzelner, zerrissener Eindrücke ohne wirklichen Zusammenhang. Ihr einziger `Zusammenhang' besteht ja darin, daß sie von ein und demselben Wahrnehmungsapparat wahrgenommen werden). Der Mensch ist gedrängt, mit dieser Weltgeschwindigkeit mitzuhalten. Sonst entsteht in ihm der Eindruck, von der Welt überrollt zu werden. Im Spiel, wo er lustvoll eine eigene Geschwindigkeit von Momenten der kleinen Zeit hervorbringt, ist dem Menschen die Möglichkeit gegeben, aus sich heraus mit der Weltgeschwindigkeit mitzuhalten. Er läuft der Welt dann nicht mehr mühsam hinterher indem er sich verzweifelt bemüht, durch schnelle, von äußeren Notwendigkeiten geforderte Reaktionen mitzuhalten. Sondern er läuft ebenso schnell wie sie neben ihr her, oder überholt sie sogar. Das gilt vorallem für das humoristische Spiel. In einem solchen, wo Einfall auf Einfall prasselt, wo die überraschendsten Humorschübe uns überfallen bis uns das Zwerchfell schmerzt, sind wir so viel schneller als die Welt, die immer ernst ist. Und es ist ein Gefühl der Selbstbehauptung, das uns davon bleibt.
Dieses Gefühl der Selbstbehauptung resultiert aus der Erfahrung selbstproduzierter Geschwindigkeit, schneller Abfolge von Momenten der kleinen Zeit, welche aus dem innersten Drang des Geistes, Bewegung zu werden, entstanden sind, und zwar in einer Geschwindigkeit, die der Weltgeschwindigkeit gleichkommt oder sie sogar übertrifft. Unser eigenes Streben ist dann schneller als die Welt. Produziert eine höhere Geschwindigkeit. Aus sich heraus, nicht als Antwort auf eine Notwendigkeit. Diese eigene Geschwindigkeit benützt die Weltimpulse, wird nicht mehr von ihnen vorwärtsgerissen, sondern greift sie sich, schneller als diese sich von selbst einstellen würden, um eine Bewegung konkret werden zu lassen.
Ein Weltimpuls ist eine Wahrnehmung. Eine Erinnerung an eine Wahrnehmung. Ein Reiz, auf uns einstürzend, dem wir nicht entgehen können. Unsere Ohren können wir nicht verschließen. Unsere Hautoberfläche spürt Berührungen. Unsere Augen sehen Millionen Einzelheiten. Unsere Erinnerung gibt uns völlig unkontrollierte Impulse ein. Dieses Auf-uns-Einstürzen, das uns Weltgeschwindigkeit suggeriert, erdrückt uns, wenn wir es nicht verstehen, die Bewegung umzukehren und einen Sturz aus uns hinaus zu produzieren. Dieser Sturz aus uns hinaus ist das Spiel. Im Spiel sind wir ein kleiner Rest Eigenheit, indem wir eine Umkehrung des Weltsturzes in uns hinein sind. Die Souveränität des Spielers, die lediglich darin besteht, daß ihm sein Spiel bewußt ist und er noch auf dessen Verlauf Einfluß hat, unterscheidet ihn vom Gehetzten, Gejagten, der auch den Weltsturz umkehrt, doch ohne dieser Umkehrung eine eigene Nuance geben zu können. Der Weltsturz prallt am Gehetzen quasi nur ab und schleudert ihn in von ihm nicht mitbestimmte Richtungen, während der Spieler den Weltsturz verdaut und in Richtungen umkehrt, die er mitbestimmt.
Der Spieler spürt zunächst keinen Sturz. Er horcht still auf die große Zeit, welche nicht auf einer Kette aufgereit ist wie die kleine Zeit. Im Raum der großen Zeit verspürt er dann Regung, eine Neugier, eine Lust. Eine solche Regung greift nach einem Weltimpuls, ohne ihn einfach beantworten zu wollen, sondern um ihn in einer Verknüfung mit anderen Weltimpulsen zu einer lustvollen Bewegung zu machen. Die Regung im Spieler möchte Bewegungen schaffen, noch bevor sie von der Überflut aus Weltimpulsen gefordert würden. Bleibt diese Regung aus, so verharrt der Mensch, der später ein Gehetzter sein wird, bis der Sturz der Weltimpulse beginnt so stark zu werden, daß er von ihm umhergetrieben wird. Die Weltgeschwindigkeit überholt ihn. Er läuft der Welt hinterher, ohne sie je wieder einholen zu können. Sie ist ihm zu schnell geworden. Nur der Spieler kennt keine zu schnell gewordene Welt.
Das Spiel ist Einfall ohne Überlegung, ein selbstvergessenes Singen ohne den Zweck der Präsentation, eine schöne Vorstellung ohne Absicht zur Flucht. Es ist völlig leicht und ohne Verpflichtung, daher kann es in jedem Moment ohne Verlust abgebrochen werden. Kann ein Einfall, eine Vorstellung nicht mehr abgebrochen werden, sind wir in den Ernst oder gar die Manie geraten. Das Spiel ist jederzeit abbrechbar. Es ist jedoch eine Manie des Spielers insofern, als daß er immer wieder zu ihm zurückkehren wird. Sobald die Weltgeschwindigkeit droht, ihn zu überholen. Doch rührt die Manie nicht von ihm her. Sie ist begründet in der Permanenz der Weltgeschwindigkeit. Die immer weiter macht. Die er in seinem Spiel nur für Augenblicke überholen kann, welche ihm dann erlauben das Spiel wieder abzubrechen, weswegen es doch ein Spiel bleibt. Die Manie ist das Wiederbeginnen, erzwungen durch das manische Weiter der Welt. Je schneller die Welt weiter macht und je größer ihre Geschwindigkeit dabei wird, desto öfter muß der Spieler zu seinem Spiel zurückkehren. Und so ist der Spieler ein typisches Produkt unserer Zeit, die mit größer und größer werdender Geschwindigkeit weitermacht und deren Weltsturz heftiger und heftiger in uns hineinbricht.